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Teaser:
von Maurice Hüttemann
165 ist die neue 100, die mal die neue 50 war – in einer Zeit, in der wir heute nicht wissen, was morgen noch gilt, ist es umso visionärer, gleich 63 Jahre in die Zukunft zu blicken. Das haben die Schüler*innen der 10d in diesem Schuljahr in Prosaform gewagt. Warum genau 63 Jahre? Nun, 2084 wird (nicht nur) bei den älteren Leser*innen mit Sicherheit folgende Assoziation wecken: 1984, George Orwell, Dystopie. In seinem visionären Meisterwerk, für dessen Lektüre sich die 10d zu Beginn dieses Schuljahres entschied, blickt Orwell in eine dunkle Zukunft, die geprägt ist von einem totalitären Überwachungsstaat und in dem alle Bürger*innen von einem Apparat mit glatter Oberfläche abgehört, der Sender und Empfänger zugleich ist. Das kommt Ihnen bekannt vor? Nun, Orwell hatte diese Idee schon 1948. Die Schüler*innen der 10d erstellten während der Lektüre von "1984" ein Portfolio, das unter anderem ein Kapitel mit einer eigenen Dystopie enthält. Einige davon finden Sie im Folgenden. Genießen, erschaudern und entdecken Sie bei der Lektüre von 4 unterschiedlichen Zukunftsentwürfen, von denen hoffentlich keiner eintreten wird.

 

 

2084
von Chiara Bettingen, 10d


Das Meer, verheißungsvoll glitzernd in der Abendsonne. Sanftes Rauschen. Wind, der salzige Luft mit sich bringt. Wenn man vor 80 Jahren jemanden gefragt hätte, was das Meer für ihn bedeutete, hätte er vermutlich mit leuchtenden Augen von seinem letzten Urlaub erzählt, wie faszinierend doch diese riesige Wassermaße sei. Faszination und Freude. Doch das Wort „Meer“ löste diese Gefühle nicht mehr aus. Den einzigen Gedanken, den das Meer nun aus-löste, war Angst. Düstere, grausame Angst. Dies, und eine wissende, düstere Vorahnung.

Eine düstere Vorahnung, so hatten viele Politiker oder andere Brillen tragende Pinguine den Klimawandel genannt. Gelacht und belustigt hatten sie aus ihren vergoldeten Fensterrah-men auf die Protestierenden geschaut. Wohlwissend, dass „Alles“ nur Wichtigtuerei sei, was sonst. So viel Macht konnten die Menschen doch gar nicht haben, das wüssten sie doch sonst. Aber er war gekommen, schnell und unaufhaltsam. 2031 war der Meeresspiegel schon so hoch, dass Madagaskar und die gesamten Inseln in der Karibik überflutet wurden. Es folgten zahllose Flüchtlinge. Es hörte nicht auf. Der Meeresspiegel stieg und stieg, und dieses mal waren die Menschen wirklich nicht mächtig genug. Durch den Anstieg schwand alles: Fläche, Nahrung, Tiere und Pflanzen. Die Regierungen der Länder blieb keine andere Wahl als einzusparen. Einzusparen in jeglicher Hinsicht. Der beste Weg dafür war es, die An-zahl der Menschen zu minimieren. Natürlich nicht durch töten, nein für solch primitive Ge-danken waren die Politiker schon lange nicht mehr zu haben, der Name der Lösung lautete: „ewiger Schlaf“. Kein Platz mehr an der Oberfläche? Kein Problem, dann baut man eben nach unten aus. Unter dem Meer, unter Bergen, ja sogar unter Vulkanen und Inseln wurden Kammern geschaffen. Kammern für schlafende Menschen. Dicht an dicht gestapelte Kästen mit Menschen jeder Herkunft, jeder Religion, jeden Alters und Geschlechts. Menschen, die schliefen, vielleicht seit 30 Jahren, vielleicht auch erst seit 2 Stunden. Einen Schlaf der erst beendet werden würde, sollte eine andere Lösung als diese gefunden worden sein. Die Rechnung der Regierung war einfach: Weniger Menschen bedeutet weniger Nahrungsver-brauch. Weniger Nahrungsverbrauch bedeutet weniger Ressourcen- und Platzverbrauch und so weiter und so fort. Auch die Auswahl, wer denn nun mit Schlaf gerettet werden sollte (so die allgemeine Bezeichnung der Politik), wurde per Zufall ausgelost. Natürlich ist dafür die Registrierung eines jeden Menschens notwendig, was sich jedoch durch einige Reisen und technische Hilfsmittel recht einfach gestaltete. Auch die Bevölkerung zu überzeugen, war einfach. Wie groß sollte schon die Chance sein, dass es bei acht Milliarden Möglichkeiten ausgerechnet einen selber triftt? Zwar war dieser Schlaf vielleicht nicht grade förderlich für den sportlichen Antrieb, aber man würde ja bald wieder aufgeweckt werden.
So oder so ähnlich mussten die Menschen im Jahre 2034 wohl gedacht haben, doch diese Vermutungen stellten sich nicht als wahr heraus. Denn in der heutigen Zeit, im Jahre 2084, konnte noch immer keine Lösung gefunden werden. Nun gut, vielleicht wurde auch nach keiner gesucht. Die Politik hatte erfolgreich ein Problem gelöst und die Bevölkerung war ein-verstanden damit. Zwar war der Klimawandel nicht gestoppt, genauso wenig wie der Anstieg des Meeresspiegels, aber die Menschen konnten nun hoffen. Hoffnung war schon immer die menschlichste aller Eigenschaften gewesen und die dümmste, wenn man Oliver fragte.

Hoffnung ist nicht logisch und beruhte nur auf dem einfältigen Gedanken eines mit Sicher-heit eintretenden guten Endes. Hoffnung konnte nichts ändern, sie war nur das Produkt der Verdrängung der Angst der Menschen. Hoffnung hatte auch nicht die Menschen vor den Kriegen bewahrt. Oliver war überzeugt davon, dass Logik und rationales Denken der einzige Weg sei um zu überleben. Entscheidungen, wie Teile der Bevölkerung zum Schutze aller in einen Schlaf zu versetzen, waren laut Oliver logisch. Oliver war sich wohl bewusst, dass es bestimmt Personen gab, die seine Meinung zwar nicht teilten, aber, und davon war er über-zeugt, wussten diese tief in ihrem Inneren, dass dies der einzige Weg war. Genau diese tiefe Überzeugung war der Grund, weshalb Oliver in der Kammer unter dem Vesuv arbeitete und dort die lebenserhaltenden Systeme der Kästen überwachte. Doch noch eine andere Be-gründung brachte ihn dazu, sich jeden Tag über 65 Kilometer tief unter die Erdoberfläche zu begeben. Amélé. Wunderschöne, liebliche Amélé. Vor genau vier Jahren und zwei Monaten war seine Ehefrau in eine der Kammern gebracht worden. Oliver wusste nicht genau, in wel-che, das wusste nie jemand, doch er hatte den Verdacht, dass sie in der Kammer 318 unter dem Vesuv lag. Er und Amélé waren gerade einmal drei Jahre verheiratet gewesen, als sie per Zufall bestimmt wurde um in eine der Kammern zu kommen. Natürlich war Oliver be-stürzt gewesen, doch Amélé war genauso wie er davon

überzeugt, nur diesen Weg gehen zu können. Diese Tatsache hatte ihm geholfen, denn hät-te sie nicht gehen wollen, wäre es für ihn unmöglich gewesen sich auf unbestimmte Zeit von ihr zu trennen. Es fiel Oliver immer noch jeden Tag schwer, ohne sie zu leben, doch seine Arbeit in Kammer 318 war wie eine Therapie. Er konnte ihr nahe sein, ohne das Leben der Weltbevölkerung zu gefährden.

Oliver mochte es eigentlich nicht mit seinem Aussehen konfrontiert zu werden. Er war keine dieser Personen, die morgens stundenlang vor dem Spiegel standen. Aber sein Arbeitsplatz zwang ihn jeden einzelnen Tag dazu. Grundsätzlich war der Weg zu seinem Büro nicht son-derlich angenehm. Die Aufzüge, die ihn jeden Tag unter die Erde brachten, waren nicht ge-rade, nun ja, wie sollte er es am Verständlichsten ausdrücken, geschmeidig. Nicht geschmei-dig im Sinne davon, dass sie ziemlich unruhig waren. Die unter einem aktiven Vulkan gelege-ne Kammer war nicht ohne Hindernisse zu erreichen. Ein Lavafluss hier, eine kleine Explosion dort, alles Faktoren die eine entspannte Fahrt gefährdeten. Oliver hatte schon Verschieden-stes erlebt. So stoppte der Aufzug abrupt, als ein Lavafluss seinen Weg kreuzte, oder be-schleunigte innerhalb von kürzester Zeit auf eine Geschwindigkeit unbestimmter Höhe, um nicht in die Nähe einer herannahenden Explosion zu gelangen. Selbstverständich ohne Vor-warnung. Selbst nach acht Jahren als Inspekteur hatte der kleine grüne Gurt um seinen Oberkörper und seine Taille Oliver nicht von der Sicherheit des Aufzuges übezeugen können. Auch an jenem Tag zitterten seine Beine, als er von dem kleinen Sessel innerhalb des Aufzu-ges aufstand und heraus auf den Flur trat. Da ging es auch schon los, Spiegel, Spiegel so weit das Auge reichte. Jeder einzelne Gang, jede Wand und jede Decke waren mit Spiegeln ver-kleidet. Sein damaliger Vorgesetzter, ein kleiner Mann aus Skandinavien namens Karlsson, hatte ihm erklärt, warum. » Das Wichtigste ist, sich noch selber anschauen zu können, Sportvän. Egal was du tust, du musst dir selber in die Augen schauen können. Wenn du das nach der Arbeit noch kannst, weißt du, du hast alles richtig gemacht. «
Obwohl Oliver genau verstand, was Karlsson damit hatte sagen wollen, mochte er die Gänge immer noch nicht. Zwar hatte er noch nie seinem schuldbewusst aussehenden Selbst gege-nübergestanden, als er durch die Gänge schritt, aber er brauchte auch keinen Beweis, um sicher zu gehen, dass er von seinem Handeln zutiefst überzeugt war.
Um jedoch zum Kern der Kammer zu gelangen, musste er knappe sechs Minuten durch die-sen Gang laufen. Während dieser paar Minuten strahlte ihm aus allen möglichen Richtungen seine Gestalt entgegen: ein großer, schlanker Mann mit schwarzen Haaren in einem dunkel-blauen Anzug. Es störte ihn nicht, sich selbst zu sehen, weil er sein Aussehen nicht mochte, nein, Oliver fand es übertrieben, sich die ganze Zeit selbst anzustarren. So, als würde das Universum sich nur um ihn selbst drehen, als wäre er die Hauptfigur in einem dieser Filme und als würde sein winziges Leben irgendetwas bedeuten. Nein, die Taten eines einzigen Menschen waren nicht bedeutend. Das Leben eines Einzelnen konnte nichts ausrichten, nur gemeinsam als zusammengeschweißte Masse konnte die Menschheit etwas erreichen. Zu-sammen hatten die Römer damals ein Imperium ungeahnten Ausmaßes erschaffen, zusam-men hatten die Chinesen es geschafft die Mauer zu bauen und zusammen musste die Menschheit es schaffen, die Bedrohung des steigenden Meeresspiegls zu überstehen. Würde sie dafür Opfer bringen müssen, so waren sie es wert. Was ist schon ein fehlender fünf Euro Schein in der eigenen Tasche, wenn dadurch ein ganzes Dorf ernährt werden kann? Was ist schon einige Jahre getrennt von den Liebsten zu leben, wenn dadurch fünf Milliarden Men-schen eine gesicherte Zukunft hatten? Das Leben des Einzelnen war nur bedeutend, wenn es dem Wohle der Gemeinschaft gewidmet worden war. Während er den Gang entlang ging, bemühte Oliver sich, möglichst nur auf seine Schuhe zu schauen.
Um zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen, musste er noch an den anderen Betriebsstellen vor-bei. Ungefähr auf der Mitte seines Weges durchquerte er das Besucherzentrum. Ein paar kleine Räume mit einem eigenen Fahrstuhl, die durch eine Spiegelglaswand von dem Spie-gelgang abgetrennt worden waren. Natürlich war es den Besuchern nicht möglich, in den Flur zu schauen, aber die Angestellten konnten sehr wohl in die einzelnen Räume blicken. Es wurde fast schon penibel der Kontakt der Besucher mit den Arbeitern vermieden, vermutlich um Auseinandersetzungen zwischen ihnen zu vermeiden. Die Räume waren vergleichsweise kindlich eingerichtet mit ihren bunt gestrichenen Wänden und dem gelben Aufzug. Den an der Erdoberfläche Verbliebenen war es möglich, ihre schlafenden Freunde oder Verwandten zu sehen, natürlich nur hinter dem Deckel des jeweiligen Kastens. In dem einem Raum stan-den ein Mann und eine Frau in einem roten Mantel, beide vermutlich Mitte zwanzig. Oliver blieb stehen, weil ihm etwas an dem Gesicht der Frau bekannt vorkam. Er kannte diesen ungewöhnlichen Schwung der Lippen. Sie hatte sich über einen Kasten gebeugt und redete, wie es schien, nicht mit ihrem
Mann, sondern mit der Person in dem Kasten, die jedoch von dem breiten Rücken des Man-nes verdeckt wurde. » Oh Abbey « , sagte die Dame, » du siehst mit 30 noch viel hübscher aus als mit 20. Ich hab dich lieb, Abby, ich... « Die Frau hörte gar nicht mehr auf, davon wei-ter zu reden, wie lieblich diese Abby aussah, wie gut ihr Hautton durch das dunkle Grün des Kastens betont wurde und wie freundlich sie doch immer im Schlaf lächelte. Oliver kannte dieses Verhalten schon. Es war ganz typisch für die Besucher ihre Zeit mit den Liebsten mit fast wehleidiger Stimme von den guten Seiten und Taten der schlafenden Person erzählend zu verbringen. Immer wieder jemanden zu sehen, der ein fester Bestandteil des eigenen Le-bens war und nun jedoch der Vergangenheit angehörte, ließ die Menschen auch nur in den Erinnerungen an längst vergangene Zeiten leben. Endlich ging der Mann zur Seite und offen-barte eine Frau Anfang 30, die mit geschlossenen Augen in einem der typischen olivgrünen Kästen lag. Oliver kannte diese Frau, sie war vor drei Tagen Bestandteil seiner Arbeit gewe-sen. Abby Margret Washington, offensichtlich die Schwester der Frau in dem roten Mantel und seit zehn Jahren in der Kammer unter dem Vesuv. Auch als er schon lange bei seinem Arbeitsplatz angekommen war, redete die Frau immer noch mit Tränen in den Augen auf ihre Schwester ein.
Den letzten Personen, oder den letzten wachen Personen, denen er auf dem Weg zu seiner Dienststelle begegnete, waren die Modellierer. Ihre Räumlichkeiten ähnelten im Grundauf-bau denen der Besucher, nur waren sie größer und weniger farbenfroh. An den Wänden standen große Regale mit Wachs, Ton, Werkzeugen, Farben und Schminke. In der Mitte des Raumes lagen mehrere Personen, deren Kästen der Deckel abgenommen worden war. Bei einem Herr mittleren Alters wurden vorsichtig die übriggebliebenen Haare am Kopf entfernt und zur weiteren Verwendung sorgsamst aufgehoben. Von einem 12 jährigen Mädchen wurde während dessen ein 3D-Scan durchgeführt, ihre Haare und Wimpern waren schon entfernt. Diese würden beim weiteren Verlauf nur hinderlich sein. In dem nächsten Raum waren dann nur noch die Bilder von einem jungen Mann übrig. Zwei Männer in weißen Kit-teln machten sich daran, das Gemisch aus Ton und Wachs zu perfektionieren, was auf jede Pore genau den Körper des Mannes darstellte. Auch seine Wimpern lagen schon anbrin-gungsbereit in einem kleinen Plastikschälchen auf dem Tisch. Sogar das Atmen und der Herz-schlag konnte personnenspezifsich durch eine Apperatur im Brustkorb immitiert werden. Bald würde eine perfekte Kopie des männlichen Körpers erschaffen worden sein, so genau, dass nicht einmal seine Mutter bemerken würde, dass hier nicht ihr liebevoller Sohn lag, sondern eine kalte, tote, herzlose Figur. Auch Abby Washington im Besucherzentrum war so eine Figur gewesen. Leblos und in keinster Weise die fröhliche junge Frau in den Erinnerun-gen ihrer Schwester.
Nicht, dass Olivers Arbeit mit der von den Modellierern zu vergleichen war, seine Arbeit fand nämlich im Kopf statt. Nicht, dass sie sonderlich kompliziert gewesen wäre, genau genom-men bestand sie aus einem einzigen Fingerabdruck.
Sein Arbeitsplatz war ein runder Raum mit einer hohen Decke. Er wurde durch kaltes Licht erhellt, was die weiß gekachelten Wände wie Eis erschienen ließen. Würde man nur dies beachten, wäre sicherlich nichts Außergewöhnliches über den Raum zu sagen gewesen. Er strahlte zwar eine unnatürliche Kälte aus und wirkte durch die komplett weißen Wände im allgemeinen auch recht grell, doch war dies nicht auffällig. Selbst das einzig Außergewöhnli-che in dem gesamten Zimmer war weiß. Exakt in der Mitte des Raumes befand sich eine gi-gantische Maschine, aufgrund der Farbe nicht leicht zu entdecken, doch einmal gesehen, konnte man sie nicht mehr ignorieren. Die Maschine bestand aus einer großen Röhre, die in einer Art riesigen Trichter mündete, von dem aus widerum kleinere Röhren, in kleinere Be-hälter führten. Ganz am Ende befand sich eine Art Auffangbecken. Das Einzige im Raum, das schwarz und nicht weiß war. Oliver bewegte sich auf den Apparat zu und drückte einen klei-nen ebenfalls weißen Knopf an der Röhre. Es wurde ein kleiner Bildschirm sichtbar, auf dem der Name eines Mannes auftauchte. Gabriele Tabecci. 85 Jahre. Geboren und aufgewachsen auf Sizilien. Zwei Enkelkinder, fünf und zehn. Oliver tippte ungeduldig auf den Bildschirm. Ein Foto erschien. Ein lächelnder älterer Herr saß mit einem kleinen Jungen auf dem Arm auf einer Bank. Der Junge hatte in der einen Hand einen Teddybären, mit der anderen hielt er ein großes Schokoladeneis fest, das schon mehrmals auf die Hose des älteren Herren ge-tropft hatte. Gabriele und Matteo Tabecci, 2077 stand unter dem Bild. Dieses war für Oliver nicht wirklich interessant, er bauchte kein lächelndes Gesicht. Im Schlaf lachte man nicht. Ein neues Bild. Tabecci, nun schlafend in einem noch geöffneten Kasten, der Teddybär des Jun-gen lag unter seinen gefalteten Händen. Oliver tippte erneut auf den Bildschirm und sah, wie es den Anschein hatte, das gleiche Foto. Langsam zog er die beiden Bilder übereinander, so dass der Apparat jede Kleinigkeit prüfen und gegebene Unstimmigkeiten ausbessern konnte. Der Bildschirm blinkte zufrieden auf, alles passte. Die Figur von Gabrielle Tabecci war auf jede falsche Hautschuppe genau das Ebenbild des Menschen, Klamotten und angeklebte Haare, der Teddybär
von seinem Enkel, alles genau an der richtigen Stelle. Noch eine letzte Prüfung, dann konnte die Maschine beginnen. Langsam öffnete sich eine Seite der Röhre und ein älterer Herr kam zum Vorschein. Obwohl ihm jegliche Haare und Wimpern fehlten, bestand kein Zweifel dar-an, um wen es sich hier handelte. Die Röhre schloss sich. Oliver legte seinen Finger auf ein kleines weißes Plättchen neben dem Bildschirm. Fröhlich surrend begann der Apparat zu arbeiten. Exakt nach 15 Minuten vernahm Oliver ein schrilles Piepen. Er ging zum Auffang-becken. Oliver nahm das darin Enthaltene vorsichtig heraus und legte es auf ein kleines an der Wand befestigtes Brett, am anderen Ende des Raumes. Neben dem Brett leuchtete ein kleiner Bildschirm auf. Auf diesem erschien eine Weltkarte, die in verschiedene Farbzonen unterteilt war. Nur ein kleiner Punkt leuchtete dunkelrot. Es war irgendein winziges Dorf in Italien. Hinter dem Brett öffnete sich eine kleine Klappe. Oliver warf noch einen kurzen Blick auf das darauf Gelegene: In mehrere kleine Plastiktüten eingeschweißte, kleine Pillen. Das Einzige, was von Gabriele Tabecci noch übrig war. Wieder drückte er auf den Bildschirm. Die Tütchen mit den Pillen wurden eingesaugt und die Klappe schloss sich. Das rote Blinken auf dem Bildschirm war noch nicht erloschen. Sie brauchten mehr Pellets. Denn das war, was noch übrig blieb von den schlafenden Menschen: Kleine bunte Futterpellets für Tiere. Tiere, die kein Fressen mehr fanden, weil der steigende Meeresspiegel es Ihnen genommen hatte. Futterpellets für Kühe, Schweine, Schafe und alles andere, das den noch verbliebenen Men-schen einen vollen Magen beschaffen könnte. Nur durch Pflanzen oder Ähnliches war es nicht mehr möglich, Nahrung für die Menschen oder Tiere beschaffen zu können, denn es gab zu wenig Platz zum Anbau. Also hatten die Regierungen zu der letzten möglichen Lösung gegriffen. Natürlich nicht Menschen an Menschen verfüttern, nein, das wäre Kannibalismus. Aber Menschen als Futter für Tiere, die wiederum als Nahrung für besagte Menschen galten, war eine moralisch umsetzbare Möglichkeit. Es wurden ja auch nicht alle Menschen umge-wandelt, nur die schlafenden und die konnte man leicht durch die Figuren ersetzen. Das tat niemandem weh, die Betroffenen schliefen und spürten nichts, die Angehörigen merkten nichts und die Bevölkerung hatte Nahrung. Auch hierbei wurde per Zufall ausgelost, hatte es nicht schon in der Bibel einen gewissen regierenden Mann gegeben, der seine Hände in Un-schuld wusch? Auch Oliver sah sich nicht als Schuldigen. Der Tod des ausgewählten Schla-fenden war notwendig, um die restlichen vier Milliarden Menschen über die Runden zu brin-gen, streng genommen waren sie also Helden, die den anderen zum Überleben verhalfen. In dem kleinen Bauerndorf in Italien, in das die Pellets transportiert worden waren, wurde si-cherlich Viehzucht betrieben. Die Pellets würden mit dem normalen Futter vermengt wer-den, ohne dass der Bauer es merken würde. So würde seine Familie einen Weihnachtsbraten essen können. Vielleicht wurde das Fleisch aber auch verladen und landete als warme Mahl-zeit auf dem Tisch seiner Enkel, die er, Gabriele Tabecci, so retten würde. Nein, Oliver zwei-felte kein bisschen an seiner Arbeit oder den zu treffenden Maßnahmen. Er stand völlig hin-ter ihnen. Auch als er nach der wiederholten Durchführung des Vorgangs den Weg nach Hause antrat, konnte er in jeden einzelnem Spiegel des großen Ganges blicken. Keine Spur von Reue, keine Spur von Genugtuung in seinem Gesicht zu finden, nur der Blick eines mü-den Angestellten.

Am nächsten Tag ging Oliver wieder zur Arbeit. Wieder durch den Flur mit den Spieglen, vor-bei an dem Besucherzentrum und vorbei an den Modellierern. Dieses Mal war der Bild-schirm an der Maschine schon aktiviert, als er kam. Sein Kollege, der die Nachtschicht hatte, musste vergessen haben ihn auszustellen. Als Oliver einen Blick auf den Bildschirm warf, signalisierte dieser ihm, dass nur noch sein Fingerabdruck nötig war, um den Umwandlungs-prozess in Gang zu setzen. Oliver legte seinen Finger ohne Umschweife auf das kleine Plätt-chen. Er war seinem Vorgänger fast dankbar, dass dieser schon die gesamte Vorarbeit gelei-stet hatte. Oliver mochte es nämlich eigentlich nicht Menschen ohne Wimpern und ähnli-ches anzuschauen. Diesen Anblick empfand er auch nach Jahren des Arbeitens immer noch einen Hauch verstörend. Der Bildschirm blinkte erfreut auf und damit auch der Name der Person. Amélé Abdou. 33 Jahre, verheiratet mit Oliver Abdou. Es erschien ein Bild von ihr. Sie saß auf einer Liege am Strand und lachte strahlend in die Kamera. Ihre schwarzen Haare waren noch nass vom Wasser und ihre dunkle Haut schimmerte wie tausende von Perlen. „Amélé Abdou, 2078 Griechenland, Hochzeitsreise“, stand unter dem Bild. Oliver fing an zu schreien. Mit bloßen Händen schlug er auf den Apparat ein und stoppte erst, als das Blut von seinen Händen anfing, in alle Richtungen zu spritzen. Die Maschine, Blut bespritzt, surrte fröhlich weiter. Oliver hasste sie. Durch seine Angst und den Hass unfähig, körperliche Schmerzen wahrzunehmen, schlug Oliver auf das Brett an der Wand ein, bis es mit einem dumpfen Geräusch zu Boden fiel. Obwohl bei seiner rechten Hand das Fleisch schon so weit abgeschabt war, dass die Knochen weiß und Blut überströmt sichtbar waren, hob er das Brett auf und schlug damit auf die kleinen Rohre ein. Er schlug auf alles ein, was er treffen konnte:
Den Trichter, das Auffangbecken, den Bildschirm und schrie dabei. Er schrie den Namen sei-ner Geliebten hinaus und seinen Hass auf die Maschine, die sie ermordete. Bis mit einem lauten Knall die Rohre brachen. Eine gequirrlte farblose Maße schoss aus ihr heraus. Ein Brei aus irgendwelchen kleinen braunen Stückchen und hellrosaner Flüssigkeit. Olivers Schreie wurden zu lautem Schluchzen. Mit seinen wunden Händen und Armen schob er den Brei zusammen und probierte jeden einzelnen Tropfen zwischen seine Arme zu bekommen. Trä-nen liefen ihm über die Wangen als er probierte, das was noch von seiner geliebten Frau übrig war, in die Arme zu schließen, wie er es früher mit ihr getan hatte. Doch der Brei ran zwischen seinen Fingern hindurch. Oliver faselte weinend und wirr vor sich hin, als er pro-bierte, die Überreste seiner Ehefrau mit Küssen zu bedecken. In einem kurzen Moment der Klarheit sah Oliver auf seine Hände. Der Brei hatte sich mit dem Blut vermischt und lag nun als dunkelbraune Maße auf seinen Händen. Olivers Blick flog weiter orientierungslos im Raum umher, bis er den Bilschirm fand. Staksend lief er auf ihn zu, kaum fähig, einen siche-ren Schritt zu tun. Er klammerte sich an den Bildschirm und strich liebkosend über ihn. Er zeigte noch immer das lachende Gesicht von Amélé. Weinend strich er über ihre Wange, ihre Lippen und über ihr Haar. Auf einmal wurde er von einer Welle von Übelkeit erfasst, alles begann vor seinen Augen zu verschwimmen. Das Foto seiner Ehefrau, der Raum, einfach alles. Er war Schuld an ihrem Tod. Er hatte sie ermordet. Liebliche, wunderschöne Amélé. Stolpernd rannte er aus dem Raum hinaus. Begleitet von Schreien, ausgelöst von Trauer, Liebe und Selbsthass. Er hörte nicht auf zu rennen, bis er sich übergab. Er fiel auf die Knie und übergab sich drei Mal. Es war, als hätte das seine Sicht geklärt. Er sah alles wieder klar. Seine zerstörten und nun unbrauchbaren Hände, die auf dem mit Erbrochenem und Blut bedeckten Boden gestützt waren. Oliver konnte diesen körperlichen Schmerz immer noch nicht spüren, ein anderer, viel schlimmerer erfüllte ihn schon. Er war gar nicht mehr in der Lage, anderes zu fühlen als Schmerz. Langsam hob er seinen Kopf. Er war in dem Gang. Sein Blick traf einen Spiegel zu seiner rechten. Nun sah er jede Einzelheit. Ein weinender, verletz-ter Mann, der kläglich schluchzend in seinem Erbrochenem saß. Oliver sah sich selbst in die Augen, die Augen eines gebrochenen und innerlich gestorbenen Mannes. Eines Mannes, der so viel Schmerz erfahren hatte, dass der Tod als Erlösung erschien. Die Augen einer Fratze, einer verstörten Kreatur des Schreckens. Oliver stieß erneut einen langgezogenen, wehkla-genden Schrei aus. Als alles schwarz um ihn wurde, verspürte er Glück. Er würde sterben. Sein Schmerz würde versiegen. Er würde sie wiedersehen.
Schmerz. Oliver fing an zu schreien und um sich zu schlagen. Er war nicht tot. Der Schmerz war noch da. Er hörte Stimmen, die beruhigend auf ihn einsprachen. Er solle sich nicht be-wegen. Er würde sich verletzen. Dabei wollte er genau das. Er wollte jeden möglichen kör-perlichen Schmerz spüren, nur um den quälenden innerlichen nicht mehr wahrnehmen zu müssen. Aber er wusste, dass dies nicht möglich war. Der Schmerz würde ihn nie verlassen. Oliver schlug seine vom Weinen brennenden Augen auf. Er war in einem Zimmer mit bunt gestrichenen Wänden. Karlsson lächelte auf ihn hinab. »A...a...am..«, probierte Oliver ihren Namen auszusprechen, doch er konnte es nicht. Bei jedem Versuch liefen ihm Tränen über die Wangen und seine Brust zog sich in einem stechenden Schmerz zusammen. »Ganz ruhig, Sportvän. Da hinten liegt sie. « Oliver richtete sich langsam auf. Dort, hinten an der Wand war ein geöffneter Kasten. Da lag sie. Erschlagend schön wie immer. Oliver konnte gar nicht schnell genug zu ihr kommen. Er kniete sich vor den Kasten und nahm ihre zarte Hand. Wie-der liefen ihm Tränen über die Wangen. Er bedeckte ihre Hand und ihr Gesicht mit Küssen. »Du bist nicht tot«, flüsterte er dabei immer wieder, »ich hab nur geträumt. Du bist hier. Es ist alles gut. Ich liebe dich.« Langsam verschwand der Schmerz. Langsam wurde wieder alles gut. Langsam vergaß er die furchtbaren Schreckensbilder in seinem Kopf. Oliver kniete noch stundenlang vor dem Kasten. Zu beseelt von der Vorstellung, dass sie lebte, um zu bemer-ken, dass die Hand die er hielt, zu kalt und steif für die Hand eines lebenden, echten Men-schen war.

 

 

KLEINER STERN (2084)
von Emilia Forster, 10d

 

funkel, funkel kleiner stern, ach wie bist du mir so fern.

Mittlerweile waren sie es gar nicht mehr, die Sterne, so fern wie vor einigen Jahren erdacht.

wunderschön und unbekannt, wie ein strahlend diamant.

Unbekannt sind sie auch nicht mehr, denn die Wissenschaft hat bereits alles ergründet, was ergründet werden kann.
Die Menschheit ist zu weit gekommen, zu weit, hat zu viele Punkte ohne Wiederkehr über-schritten und nicht aufgehört, nicht bis auch die letzten Stücke des Nichtwissens zerschmet-tert waren.

Die Leute denken nicht mehr nach, die Leute träumen nicht:
Die Leute wissen nur noch.

Wir wissen, dass es in unserer Galaxie 42, nicht 48 andere Zivilisationen gibt. Douglas Adams muss so verdammt stolz sein.
Die Drake-Gleichung war sowieso immer eher träumerisches Wunschdenken, bei weitem nicht so genau wie Science-Fiction. Im Endeffekt war die Realität schon immer seltsamer gewesen als der menschliche Verstand sich vorzustellen vermag.

Vielleicht hörten wir deshalb mit dem Träumen auf – es war ermüdend, übertroffen zu wer-den.

„Kai! Komm her, du wirst das Spiel verpassen!“

Mit vorsichtigen Schritten eilte Kai den schmalen Flur entlang, zwischendrin mit kleinen Sprüngen, um den aufgespannten Kabeln, die zum eingerosteten Holo-Projektor führten, auszuweichen.

Neo hatte sich unmittelbar davor niedergelassen und erhielt von seinem Freund im Vorbei-gehen nur einen leichten Schlag gegen die Wange als Aufforderung, das Herumkauen auf seinen Fingernägeln zu unterlassen.
„Ich dachte, du hättest damit aufgehört“, murmelte Kai müde und ließ sich auf die alte, ab-genutzte Couch fallen.

Manchmal war der Gestank des Moders in diesem Raum unerträglich, doch da Lüften nicht wirklich möglich war, blieb einem nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden.
„Dachte ich auch“, der Ältere entfernte seine Finger von seinen Lippen und strich sich eine Strähne seines viel zu langen Haares aus den Augen,
„aber diese Meisterschaft macht mich immer verrückt.“

Kai erzwang ein schwaches Lachen und starrte auf das flackernde Bild vor ihm, „du zeigst dich nirgendwo so euphorisch wie hierbei.“
Es war nicht wirklich ein Witz, viel mehr eine Feststellung. Es gab nichts anderes mehr, bei dem sich Euphorie verspüren lassen könnte.

Zero-Gravity-Football: Es war ein wenig veraltet, aber immer noch ein Publikumsliebling – zumindest unter der Menge von Publikum, die noch übrig ist.
Die meisten Menschen haben die Erde bereits verlassen, über Jupiter hinaus können keine Signale empfangen werden, also besteht buchstäblich keine Chance, dass die höheren Klas-sen ebenfalls zusehen.

Sie haben sich unabhängig davon wahrscheinlich sowieso schon etwas Edleres und unend-lich Teureres ausgedacht.

„Ich wollte früher immer Fußballspieler werden“, Kais Stimme erklang leise, kaum hörbar über dem dumpfen Jubel, der aus den Lautsprechern des Projektors ertönte.

„Ich dachte, du wolltest Pilot werden?“, Neos Blick wandte sich auch nicht nur eine Sekunde vom Geschehen ab – jede Bewegung der Spieler wurde von seinen Augen genau verfolgt.

„Nein, du wolltest Pilot werden.“

Neo warf dem Jüngeren einen verwirrten Blick zu, lange Locken versteckten das Runzeln seiner Stirn.
„Oh richtig, das war ich“, brummte er schließlich und verlagerte seine Aufmerksamkeit schnell wieder auf das unruhig flackernde Hologramm.

Im Jahr 2084 gibt es nicht viel was Menschen nicht erreicht haben, nicht vieles, was nicht von uns erobert oder zerstört worden war.
Keine letzte Grenze der Wissenschaft, nein, es gibt nichts mehr.

Aber eines hat sich nicht geändert – es gibt den Tod und es gibt das Leben.

Und wenn die Erde ein lebender Körper ist, dann war der Mensch der Krebs, für den sie kei-ne Heilung finden konnte.

Also stirbt sie.
Aber nicht, bevor das Universum einen ziemlich guten Kampf austrug.
Denn wie bekämpft man Krebs? Na ja, durch Strahlung natürlich.
Wir waren verführt worden zu glauben, wir seien unsterblich, doch plötzlich war die Affäre verblüht. Als wir gerade davon überzeugt waren, dass der Klimawandel früher oder später unser Untergang sei, kam die lang erwartete Vergeltungsmaßnahme des Universums.

Eta Carinae: der verlorene Stern, dessen Gefahr zu lange geleugnet wurde.

Er brach zusammen.

Als die erste Welle von Gammastrahlen die Erde traf, waren die Leute nicht bereit, obwohl sie dachten, dass sie es waren – Milliarden starben, Millionen mehr wurden mit tödlichen Krankheiten diagnostiziert.
Pflanzen verdorrten, Vögel stürzten vom Himmel und Tiere lagen zu Hunderttausenden auf der Straße.
Verbleibende Wissenschaftler strichen keine Arten mehr von der Liste, sondern rissen ganze Seiten heraus und verbrannten diese.

Natürlicher Massenmord – auch den übrigen Nachrichtensprechern blieben keine anderen Worte dafür.

Die Weltbevölkerung wurde fast über Nacht um mehr als die Hälfte reduziert, und die Folgen waren geradezu verheerend.
In den nachkommenden Jahren wurde diese Hälfte durch die Nachbeben der Strahlung noch einmal halbiert, dies ging so weiter, wodurch die Weltbevölkerung auf kaum ein Achtel des früheren Wertes sank.
Alle dachten, es sei endlich an der Zeit für den Menschen zu gehen.

Doch Krebs ist nicht so einfach zu heilen – und die Menschheit ist es auch nicht.

Wir wollten es wahrscheinlich Lebenskraft nennen, die Welt könnte es Pest nennen.

Wie auch immer man es nennt, die Menschen, die überlebten, entwickelten Pläne, Antwor-ten, schufen Zeit, so wie sie es immer getan hatten.
Und das Leben ging weiter: Unter Kleidung und Spezial-Anzügen, gemacht um Gammastrah-len abzulenken. Mechaniker und Wissenschaftler entwickelten sogar einen Weg, diese Strah-lung in nutzbare Energie umzuwandeln und die Zivilisation blühte wieder auf.

Kurzfristig.

strahlend schön am himmelszelt, erleuchtest hell die ganze welt.

Und da haben wir wirklich angefangen, zu den Sternen aufzublicken.
Es wurde den Menschen endlich klar: Unsere Zeit hier geht zu Ende und unsere Welt wird sterben. Finden wir keinen Ausweg, sterben wir mit ihr.

Einige nannten es einen edlen Weg zu gehen, aber die Meisten wollten einfach nur raus.

Das Phänomen der immer wiederkehrenden Lebenskraft oder auch das des menschlichen Wahnsinns.

Also hatte der Weltrat einen Plan ausgearbeitet, einen verzweifelten, verrückten Plan – aber dennoch einen Plan: „Schicken sie 42 Schiffe in den Weltraum, in Richtung der bekannten Populationen in unserer Galaxie und hoffen sie, beten sie, dass einige von ihnen es schaf-fen.“ Es gab sicherere Zivilisationen, die mit den Menschen bereits in Kontakt getreten sind. Egal wie schwach die Funksignale waren, egal wie befremdend die Nachrichten waren und egal wie lange es dauerte, diese zu entschlüsseln: Es war Kontakt.
Angesichts der deutlich gesunkenen Weltbevölkerung war es nicht undenkbar, die Überreste dieses kümmerlichen Volkes in 42 verschiedene Schiffe aufzuteilen.

Also ist genau das passiert.

Nur natürlich ist es komplizierter. Es ist immer komplizierter.

Wie wird entschieden, wer zuerst gehen darf? Wer darf zu den sicheren Zivilisationen und wer wird auf eine Reise bis zum Rand unserer Galaxie geschickt, ohne zu wissen, ob er dort überhaupt jemals eintreffen wird?
Blicken wir zwei knappe Jahrhunderte zurück, sehen wir ein Schiff namens Titanic, welches auf den Grund des Ozeans gesunken war.

Und während sich die Geschichte nicht wiederholt, reimt sie sich nur allzu gut.

Die Reichen und Wichtigen gehen zuerst, erhalten Plätze auf den sichersten Planeten. Die weniger Wohlhabenden gehen zuletzt.
So ist es in der Geschichte der Menschheit immer gewesen und so wird es bis zum Ende der Zeit sein – die Schönheiten der sozialen Hierarchie.

Alle Tiere sind gleich, aber einige Tiere sind gleicher als andere.

Ein Schiff fliegt ungefähr jedes halbe Jahr, so lange dauert es, bis das Kraftwerk mit ausrei-chend Energie vollgeladen ist, um eine solch kolossale Strecke zurückzulegen.

Das vorletzte Schiff war vor etwa sechs Monaten abgereist.

„Drei Punkte! Wir haben drei Punkte Vorsprung!“, Neo stand mittlerweile, mit einer unruhi-gen Hand an Kais Schulter und strahlenden Augen auf den projizierten Ball fokussiert. Kai wünschte sich oft, er könnte dieses Strahlen immer sehen – es war ansteckend.

Als das Spiel von Werbung unterbrochen wurde, quetschte Kai sich an seinem besten Freund vorbei, um in der Küche nach Essen zu suchen.
Es liefen alte Wiederholungen von veralteten Dingen: Luftfahrzeuge,
Holo-Projektoren, Nano-Tablets usw.

Neo wandte seinen desinteressierten Blick von einem ihm ausgesprochen bekannten Wer-bespot ab, als er das genervte Seufzen des blonden Jungen aus der Küche hörte.

„Nichts mehr da?“, als Neo keine Antwort erhielt, stand er auf und folgte Kai in die blau aus-geleuchtete Küche, vorsichtig natürlich, wird die Verbindung ihres schäbigen Holo-Projektors auch nur kurz unterbrochen, läuft er für die nächsten Tage nicht mehr.

„Wir sollten einkaufen“, der Ältere blieb im Türrahmen stehen und beobachtete wie sein bester Freund nervös an einer verkrusteten Wunde kratzte. „Mit welchem Geld?“, Kai sah fragend zu Neo auf.

„Wer braucht Geld, wenn du den Fünf-Finger-Rabatt hast?“

Der Jüngere atmete nur angestrengt auf, vielleicht zu müde, um zu diskutieren oder innerlich sowieso davon überzeugt, dass es nicht anders geht. So haben sie es seit Jahren gemacht, Neo dachte immer, Kai würde sich daran gewöhnen. Und auch wenn es altmodisch klingt, Kai behauptete von sich selbst, dass Stehlen einfach nicht zu ihm passt.

Als sie damals angefangen hatten, leuchteten Neos Augen immer mit etwas Gefährlichem, etwas Teuflischem.
Inzwischen ist selbst das verschwunden – Stehlen eine genauso alltägliche Tätigkeit wie At-men. Auch die Angst oder Wut in den Augen der Ladenbesitzer ist verschüttgegangen.

Es ist alles leer: Die Straßen, die Häuser, die Läden und die Menschen.

Man erinnerte sich kaum noch an die Zeiten, in denen all dies noch voller Leben war, in de-nen die Strahlen der Eta Carinae nur ein Licht an unserem Nachthimmel waren. Man erin-nerte sich nicht, also konnte Kai sich nicht sicher sein, ob er sie vermisste.
Er war sich nicht einmal sicher, wie alt er war.

Alt genug. Das hatte man über ihn gesagt, als seine Eltern ihr eigenes Kind gegen einen Platz auf einem der vornehmeren Schiffe eintauschten.
Neo war einem ähnlichen Schicksal unterlegen und stufte sich stolz als älter ein, es war nur eine Annahme, die auf seinem beginnenden Bartwuchs basierte, aber es genügte beiden.

Er war also alt genug – mehr Informationen waren nicht nötig.
Weder für ihn noch für Neo noch für irgendeine Person auf diesem jämmerlichen Planeten.

Das heißt, es gab doch noch etwas, das Kai nicht wusste.
Doch zum Wissen zählen oft nur die Dinge die von Bedeutung sind:
Und an Bedeutung hatte es für Kai überall verloren.

Kai wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er warmes Blut auf seinem Arm spürte. Neo hatte sich bereits kommentarlos zurückgezogen, saß wieder an seinem vertrauten Platz und das blaue Licht des Hologramms schimmerte in seinen dunklen Haaren. Kai starrte ihn nur regungslos an und pulte blutige, kleine Hautfetzen aus den Spitzen seiner Fingernägel.

An der Glastür des inhaltslosen Kühlschrankes klebte ein kleiner,
neon-grüner Zettel. Der Text darauf war dank Neos Handschrift nahezu unlesbar, doch Kai hatte ihn sich oft genug durchgelesen, um ihn sich zu merken:
ein gedanke ist wie ein virus, resistent, hochansteckend und die kleinste saat eines gedanken kann wachsen. er wird sich verbreiten und er wird zerstören.

Neo sagte immer, es sei ein Zitat eines Drehbuchautors, den er verehrte.
Kai hatte den Tag, an dem sein bester Freund diesen Zettel an die Tür klebte, noch genau im Kopf – sie waren gerade damit fertig geworden, ihre Fenster mit Strahlen reflektierenden Planen abzudecken und Neo saß auf den kalten Fliesen des Küchenbodens. Er blätterte durch alte Bücher, die ihm gehörten und weigerte sich, den Inhalt seiner Konservendose leer zu machen, zu vertieft darin, den Monolog eines stupiden Bösewichts zu rezitieren.

Manchmal erinnerte Kai diesen Tag auch als den Tag, an dem er Neo das letzte Mal glücklich gesehen hat.
Er weiß nicht, wie es passiert ist, wann es passiert ist, aber Neo las nicht mehr, schrieb nicht mehr, lachte nicht mehr.
Und manchmal erinnerte Kai diesen Tag nur als den Tag, an dem Neo ein Christopher Nolan-Zitat aus einem seiner Bücher abschrieb und an die Kühlschranktür klebte.

Und nach Kais Meinung hatte Nolan recht: Ein Gedanke wird zerstören.
Überwiegend nur Kais nervös aufgekratzte Haut, fallweise auch die Illusion, dass alles genau so läuft wie es laufen sollte.

„Warum liest du nicht mehr?“, die Blicke der beiden Jungen trafen sich, die nachfolgende Stille fühlte sich lauter an als das verzerrte Gebrüll der Fußballspieler.

„Was?“, Neos Aufmerksamkeit galt zum ersten Mal an diesem Abend etwas Anderem als seinem Football-Spiel.

„Warum liest du nicht mehr?“, Kai wiederholte sich, unsicher, welche Antwort er erwartete.

Er hatte diese Frage schon seit dem ersten Morgen stellen wollen, an dem der Ältere nicht im Schneidersitz auf dem Wohnzimmer-Teppich saß und diese bedeutungslosen Zitate auf diesen bedeutungslosen, grünen Zetteln niederschrieb. Seit dem ersten Abend, an dem der Ältere keines seiner Kinderbücher herausgekramt hatte und für ihn gesungen hatte. Er traf nur wenige Töne, aber seine Stimme schaffte es immer, die destruktiven Gedanken des Jün-geren in ihrem in Honig getauchten Klang zu ertränken.

Kai hatte diese Frage stellen wollen seit dem Tag, an dem Neos Lächeln verschwunden war.

Er konnte es nicht wahrhaben, dass diese grausame Welt es geschafft hatte, sogar Neo zu brechen, und das, was von Kai noch übrig war, brach an jenem Tag mit ihm.

Es war ein Gefühl des Aufgebens: Sie beugten sich vor der Welt, hörten auf, an etwas zu glauben, das längst nicht mehr existierte – ein Leben.
Die Beiden wandelten gefühlskalt umher und zählten die Tage, wie Schlachtschweine, die auf ihre endgültige Erlösung warten.

Oder ganz einfach wie vereinsamte, mutlose, mittlerweile erwachsene Kinder, die seelenlos die Ankunft eines Schiffes herbeisehnten.

Kai war so mit dem Warten beschäftigt gewesen, dass er verdrängt hatte, diese Frage zu stellen.

„Warum?“, wiederholte Neo mokant, seine Augen noch immer auf die von Kai fixiert und eine Emotion in ihnen erkenntlich, die für den Jüngeren keinen Sinn ergab: Schmerz. „Du fragst mich, warum ich nicht mehr lese?“

Kai wusste, dass diese Frage in jedem Fall rhetorisch gemeint war, aber er nickte. Obwohl seine eigentliche Frage wäre, warum Neo seine Hoffnung verloren hatte.

Neo schnaubte und lachte prägnant auf, „Worüber sollte ich bitte lesen?“
Er hatte offensichtlich nicht das Bedürfnis, dieses Gespräch fortzuführen und neigte seinen Kopf wieder in Richtung des Holo-Projektors, während sich seine Finger unruhig in der Schnur seines Armbandes verwickelten.

Und Kai wusste es nicht, er wusste auch nicht, worüber Neo lesen sollte, aber ein Mangel an Büchern hatte Neo früher nie davon abgehalten, eine Beschäftigung zu finden.
Hatte er ein Buch zum zehnten Mal beendet, riss er Seiten hinaus und bemalte diese. Hatte er ein Lied zum zehnten Mal gesungen, schrieb er seine Eigenen. Und hatte er genug von seinen Texten über die Sterne, legte er sich jede Nacht auf das Dach dieses Betonhauses und zeigte Kai den Stern, zu dem er am liebsten gehen würde.

Irgendwann wurden seine Zeichnungen düster und farblos, seine Lieder trivial und trübe, und in dieser einen Nachtstunde, in der die Gammastrahlung dir wenig anhaben konnte, lag Neo nicht auf dem Dach und träumte, sondern kniete vor seinem Spiegel und weinte.

Und Kai, Kai konnte ihm nicht helfen. Konnte ihm nicht sagen, dass alles gut werden würde, konnte ihm keine Hoffnung schenken und konnte es ebenfalls nicht über sein Herz bringen, ihm leere Versprechen zu geben.

Also weinte er mit ihm, jede Nacht, vor der Glastür des inhaltslosen Kühlschrankes.

Der Jüngere dachte wieder zu viel nach, das wusste er, und würde sich am liebsten vor Schmerz übergeben, wenn er an den Neo dachte, den er verloren hatte. Alle Worte, die Ne-os Mund nun verließen, waren leer und nichtssagend. Sie waren wie Farben, und Neo sprach in einer Weise, welche so tiefschwarz war, dass Kai nicht hinhören wollte.

Er vermisste ihn. Ja, er war sich nicht sicher, wie die Welt ausgesehen hatte, als sie noch vol-ler Leben war, aber er war sich sicher, wie Neo ausgesehen hatte, als er es war. Und Neo ist schon immer das einzig Wichtige auf dieser Welt für Kai gewesen.
„Steh’ nicht die ganze Zeit in der Tür und setz’ dich wieder hin.“ Neo forderte ihn zwar zu etwas auf, aber seine Stimme erklang mehr wie eine hilflose Bitte, fast wie eine Entschuldi-gung.

Kai vergab ihm leise, nahm wieder auf dem gewölbten Leder des Sofas Platz und während Neo das Spiel weiterverfolgte, starrte der blondhaarige Junge nur auf die Zahlen der beschä-digten Uhr, die über einem dunklen Riss in der Wand angebracht war.

Er wartete nur darauf, dass dieser Tag bald enden würde – so wie er es an jedem anderen Abend auch tat.

Warten konnte er gut.

ach wie bist du mir so fern.

Der Abflug des letzten Schiffes näherte sich.
Während einige Menschen in den verlassenen Straßen und auf den aschfahlen Ruinen dieser Stadt tanzten und jubelten, war dem Großteil der übergebliebenen Bevölkerung ein Tod auf der Erde, ein Tod auf dem Schiff, oder ein Tod auf einem fernen Planeten gleichgültig.

Trotzdem bereiteten sie sich darauf vor. Sei es wegen der gesetzlichen Anweisung oder aus dem puren Grund, dass es nichts Besseres zu tun gab, es spielte keine Rolle. Das Schiff wür-de in wenigen Tagen fliegen.

ihr seid, wie mein fuchs war. der war nichts als ein fuchs wie hunderttausend andere. aber ich habe ihn zu meinem freund gemacht und jetzt ist er einzig in der welt.

Kai kniete vor Neos Bücherregal und hielt einen der grünen Zettel in seiner Hand, die Neo in die hinterste Ecke des Regals gestopft hatte.
Er zeichnete die Buchstaben des Textes behutsam mit seinen Fingerspitzen nach und atmete zittrig aus. Er wusste noch genau, wann Neo dieses Zitat abgeschrieben hatte: Kai war da-mals krank und Neo las ihm jeden Abend vor. Sie lagen auf dem Dach, in dieser einen Stun-de, und der Ältere hatte das Buch Der kleine Prinz dabei.

Als sie auf der letzten Seite angekommen waren, hatten beide das Gefühl, ihr Herz würde entzweit und sie versprachen sich gegenseitig, Sonnenaufgänge auf ewig mehr zu lieben als Sonnenuntergänge.

du weisst doch, wenn man recht traurig ist, liebt man sonnenuntergänge.

Auch dieser Satz war auf einem der grünen Zettel niedergeschrieben.
Kai erinnerte sich nicht mehr an den vollen Inhalt der Erzählung, aber er wusste, dass er in jener Nacht geschworen hatte, dies sei sein Lieblings-Buch, für immer.

Kai hatte gerade ein zusammengefaltetes Stück Papier entdeckt, auf die Vorderseite waren groß die Worte Einen Stern gekritzelt, als Neo ihn aus dem Wohnzimmer herbeirief. Er ließ den Zettel fallen und lief schnell zu seinem besten Freund, der auf das flackernde Bild vor sich zeigte.

Die Nachrichten trafen auf jedem derzeit existenten holographischen Gerät ein – Das letzte Schiff fliegt in zwei Tagen. Bringen Sie nur das was Sie unbedingt brauchen, nichts anderes. Proviant wird auf dem Schiff zur Verfügung gestellt und aufgeteilt. Bitte überprüfen Sie, ob Sie auf der Liste der registrierten Namen aufgeführt sind, um Ihren Platz auf dem Raumschiff zu bestätigen.

„Wir sind schon registriert, richtig?“, Kai sah Neo fragend an und ignorierte den abwesenden Blick des Älteren, während er schwach nickte.
„Sind wir“, er atmete scharf ein, bevor er sich aufrichtete und zwei kleine Taschen aus einer Schublade zog. Er drückte Kai die etwas attraktivere der Beiden in die Hand und verschwand mit der anderen in sein Zimmer, um seine Sachen zusammenzusuchen.

Sie hatten nicht viel, also sollte die Begrenzung auf das Wichtigste kein Problem sein.

Es stellte sich heraus, dass es eher ein Problem war, diese Tasche zu füllen, also folgte Kai dem Älteren schließlich in sein Zimmer, nachdem er bei sich selbst nichts mehr zu finden hatte.
Als er die Tür zu Neos’ Zimmer öffnete, waren all die kleinen, grünen Zettel wieder wegge-räumt, genauso wie das zusammengefaltete Papier.
Neo wirkte aufgebracht, fast schon wütend, während er die Bücher, die Kai herausgekramt hatte, zurück in sein Regal räumte.

Kai beobachtete ihn für eine Weile, versuchte den Grund hinter seinen rapiden Bewegungen und seinen glasigen Augen zu verstehen: Doch er tat es nicht.

„Du willst keines deiner Bücher mitnehmen?“

Neo schüttelte seinen Kopf und drückte auch noch das letzte Buch in sein viel zu schmales Regal, um seine Antwort zu verdeutlichen. „Nein, will ich nicht.“

„Aber wieso?“, auch dem Jüngeren fiel es schwer, seine Tränen zu unterdrücken, würde Neo alles von dem hier lassen, was ihn einst am Leben hielt, wäre Kais bester Freund für immer verschwunden.

„Du hast gehört, wie die Anweisung lautet, Kai. Nur das Wichtigste.“

„Das weiß ich, aber ich begreife nicht, wieso dir all das nicht mehr wichtig ist!“

„Ich auch nicht, okay!“ Neo konnte diese gefühlskalte Mauer ebenfalls nicht länger halten und sah den blonden Jungen verzweifelt an, eine Träne floss langsam über seine Wange und Kai merkte, dass er vergessen hatte wie laut Neos Stimme werden kann. „Ich begreife es doch auch nicht, verstehst du das nicht!“ Neo wiederholte sich noch ein paar Mal, schrie herum, dass er es nicht wisse und nicht verstehe, brach zusammen und weinte, schnappte nach Luft, um wieder zu schreien.

Es war verstörend – nicht, weil Kai Angst vor ihm hatte, nein, er hatte Angst um ihn. Ihn so zu sehen, war noch schmerzhafter, als gar keine Emotion in ihm vorzufinden.

Und Kai konnte nichts tun, das konnte er nie: Das war das Schmerzhafteste daran.

Er sank neben seinem besten Freund auf den Boden, lehnte seinen Kopf an die verdreckte Wand und schwieg, wartete bis Neo aufhörte zu zittern, bis seine Schreie zu Schluchzern wurden und bis die Tränen auf seinen Wangen trockneten.

„Liest du mir ein letztes Mal vor?“ Kai unterbrach die Stille, die begonnen hatte, sich zu schwer anzufühlen, zu erdrückend.

Neo antwortete nicht.

„Wir müssen keines deiner Bücher mitnehmen.“ Kai versuchte es erneut und knickte die Spitzen seiner Fingernägel ein. „Ich will es nur noch einmal hören, ein letztes Mal.“

Neo sah zu ihm, er sah kraftlos aus und krank, nahezu elend.
„Was willst du hören?“ Seine Augen waren noch immer geschwollen und rot, vor allem lee-rer als zuvor.

„Der kleine Prinz.“ Kai erwiderte Neos Blick. „Das will ich hören.“

Und Neo erfüllte Kai diesen Wunsch.
Sie lagen wieder auf dem kühlen, unbequemen Beton ihres Hausdaches und starrten in die Sterne. Es fühlte sich vertraut an, obwohl sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr hier gewesen waren.

Früher waren sie das jede Nacht, hatten dieses unersättliche Bedürfnis nach Freiheit und danach Luft außerhalb ihrer Wohnung einzuatmen, in der man manchmal das Gefühl haben könnte man würde ersticken.

Die Atmosphäre hatte sich in den letzten Jahrzehnten so massiv verschlechtert, dass der einzige Grund, warum dies möglich war, darin bestand, dass das dünne Gitter aus Nanofa-sern, welches über die ganze Welt verflochten und verteilt wurde, Sauerstoffatome enthält.
Aber es ist nicht dafür ausgelegt, die schädlichen Sonnenstrahlen der Eta Carinae abzuleiten: Dafür sind die Kleidung und die Planen gedacht.
Die einzige Zeit, in der man dieses Bedürfnis befriedigen konnte, war also die Nacht.

Außer jemand begehrte den Wunsch von Verbrennungen zweiten Grades oder den eines relativ sofortigen Todes.

Nachdem er den letzten Satz des kleinen Prinzen über seine Lippen gebracht hatte, hatte Neo das Buch geschlossen an seine Brust gedrückt und versucht, Kai davon zu überzeugen, dass das Wesentliche definitiv für das Auge sichtbar sei.
Er wirkte ruhiger als zuvor, erschöpfter, zum ersten Mal seit langer Zeit aber glühte er wie-der für etwas – auch wenn er nur eine unbedeutende Auseinandersetzung gewinnen wollte, welche Kai ihm gegen Ende schenkte.

„Es ist so seltsam.“ Kai hielt seine Augen geschlossen und atmete tief ein, als ein schwacher Wind über seine Wangen strich. „Es ist so seltsam, dass unser ganzes Leben von einem Stern abhängt.“

Es war kurz still, doch Kai konnte den Jungen neben sich förmlich denken hören.

„In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne.“

Kai öffnete seine Augen und sah verwirrt zu seinem Freund. „Was?“

Es war zu dunkel, um es genau erkennen zu können und zu realitätsfern, um wahr zu sein, doch Kai glaubte ein kleines Lächeln auf Neos’ Lippen
zu sehen.
„Das ist Schiller“, Neo öffnete seine Augen ebenfalls und sah zurück in den Himmel, seine Mimik verzog sich schnell wieder und das erdachte Lächeln wurde mit einem Ausdruck der Sehnsucht ersetzt.
„Er meint, dass die Antwort auf alles in uns selbst liegt, nicht in den Sternen.“ Neo pausierte kurz und zog seine Augenbrauen zusammen.
„Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, die Sterne lügen nicht.“

Kai nickte schwach und gab als Antwort nicht mehr als einen zustimmenden Laut von sich. Es fühlte sich im Moment nicht wichtig an zu sprechen.

was vergangen ist, ist vergangen, und du weisst nicht, was die zukunft dir bringen mag. aber das hier und jetzt, das gehört dir.

Kai spielte die Geschichte des kleinen Prinzen immer wieder in seinem Kopf durch und wandte seinen Blick für keine einzige Sekunde von seinem besten Freund ab. Das Mondlicht funkelte in Neos Augen und verzierte seine schroffe Haut mit einem kalten Schimmer, gab ihr mehr Farbe. Er sah genau in diesem Moment weniger zerbrechlich aus, als noch vor we-nigen Stunden. Kai hatte Angst wegzusehen, da er wusste, dass genau diese Zerbrechlich-keit, dieser unerträgliche Ausdruck der Trauer beim Anbruch des Tages wieder zu erkennen sein wird.

Und Kai wurde endgültig klar, dass trotz allem Eines auf dieser Welt nie an Bedeutung verlo-ren hatte: Neo.

Wenn die Saat der Gewalt die Sprache ist, dann war die Saat der Liebe ein Blick in den Ster-nenhimmel.

Früher oder später schlossen sie ihre Augen wieder, übermannt von Müdigkeit, während der Wind mit seinen langen, zarten Fingern an ihren Haaren zog und die Ränder ihrer Träume mit seinem milden Rauschen überflutete. Sie schliefen ein, zu dem Geräusch des Windes und dem sanften Klang ihres übereinstimmenden Atmens – zu dem letzten Lied, das die Welt je singen würde.

wenn du mich zähmst wird mein leben voll sonne sein. ich werde den klang deines schrittes kennen, der sich von allen anderen unterscheidet.

Noch bevor sich die ersten Sonnenstrahlen der Morgendämmerung am Horizont gezeigt hatten, wurde Neo aus seinem tiefen Schlaf gerissen und verschwand mit Hilfe seines besten Freundes wieder durch die Luke, die zu ihrem Wohnzimmer führte.

Kai war es ohnehin klar gewesen, doch es quälte ihn dessen ungeachtet, den Älteren wieder mit der selben morbiden Fassade zu sehen und in das selbe blutleere Gesicht zu blicken, wie er es gewohnt war.

erleuchtest hell die ganze welt.

Zwei Tage vergingen wie eine Flut, zu schnell, schneller als das Umblättern einer Seite.

Kai beobachtete die eiserne Uhr, die über dem ausgeleuchteten Eingangstor der Landungs-brücke angebracht war, und sah zu, wie sie die letzten Stunden des menschlichen Lebens auf der Erde herunterzählte.
Es war erstaunlich symbolisch, dass die letzten Menschen auf unserem Heimatplaneten die-jenigen waren, die am Ende der gesellschaftlichen Klassen standen, Blindgänger und Waisen.

„Ich werde dich drinnen treffen, okay?“, Neo sah ihm in die Augen, seine kleine Tasche in der einen Hand, Kais Hand in der anderen.
Er strich mit seinem Daumen sanft über den Handrücken des Jüngeren,
viel mehr, um sich selbst zu beruhigen, nicht Kai.

Kai nickte und schenkte seinem besten Freund ein schwaches Lächeln, das Licht des Tores glimmerte in seinen langen Haaren und machte die Angst in den Augen des Älteren sichtbar. „Das wirst du“, Kai ließ Neos Hand vorsichtig los und wich ein paar Schritte zurück, „verspro-chen.“

Neo umgriff den Henkel seiner Tasche fester und zwang sich schließlich dazu, sich umzudre-hen, reihte sich in der Schlange der Leute ein, deren Namen mit einem N begannen, wäh-rend Kai sich bei denen mit K einreihte.

funkel, funkel kleiner stern.

Nach einer gefühlten Endlosigkeit des Wartens und den missglückten, suchenden Blicken in die Richtung der Menge, in der sein bester Freund untergegangen war, hatte der Ältere es über den Übergang des Schiffes geschafft. Neo kämpfte sich verkrampft durch die schmalen Gänge und das Meer an Menschen im Inneren der Raumfähre, bis er ihren Schlafraum er-reichte – er war winzig, kaum größer als ein ausgebauter Schrank, und beinhaltete nicht mehr als zwei kleine Betten, über denen eine robust aussehende Lampe flackerte.

Es fühlte sich fast wie Zuhause an.

Die makellos gefalteten Kleidungsstücke, die im Kontrast zum Rest der Kabine um einiges hochwertiger aussahen und auf den Laken ausgelegt waren, schienen immer noch unbe-rührt, also hatte Kai ihr Zimmer offenbar noch nicht gefunden.

Neo ließ die Tasche, die er die letzte Stunde über beunruhigt an seine Brust gepresst hatte auf den Boden fallen und verschwand kurz in die Messehalle, um ihre versprochene Essens-Ration abzuholen.
Er kam nach einiger Zeit mit vollen Händen zurück, blieb in dem beengenden Türrahmen stehen und musterte den kleinen Raum – Kai war nicht zu sehen.
Sein Magen zog sich zusammen und er spürte, wie sich kalter Schweiß auf seiner Handfläche bildete, versuchte aber, dieses unbehagliche Gefühl tiefer in sich zu vergraben und setzte sich leise an die Kante seines Bettes, nachdem er den Inhalt seiner rechten Hand auf Kais Kissen abgelegt hatte.

Für einen Moment starrte er nur in die Leere, versuchte, das Zittern seiner Hand unter Kon-trolle zu bekommen, indem er die Schnur seines Armbandes in seine Haut bohrte, tief genug um Wunden zu hinterlassen.
Dann griff er in seine Hosentasche und zog einen eingerissenen, zusammengefalteten Zettel heraus – den Zettel, den Kai vor wenigen Tagen in seinen Händen gehalten hatte.

Es war ein Lied, ein Lied das Neo in der Nacht geschrieben hatte, in der Kai ihm den Stern gezeigt hatte, zu dem er am liebsten fliegen würde.
Neo hätte sich einen Anderen ausgesucht, behielt es aber lieber für sich und versprach sei-nem besten Freund ihn auf jeden Stern zu begleiten,
den er sehen wollte und auf ewig an seiner Seite zu sein, bis ans Ende seiner Tage.

Kai hatte dieses Lied aber noch nie zu hören bekommen.

einen stern, der deinen namen trägt, der hellste von allen am himmelszelt.

Neo wiederholte diesen ersten Satz seines Textes immer und immer wieder in seinem Kopf, versuchte kläglich den Gedanken, der ihn gerade am meisten plagte zu überspielen: Kai. Es funktionierte nicht, nein, im Gegenteil wurde der Knoten in seinem Magen nur noch schwe-rer.

einen stern, der deinen namen trägt, alle zeiten überlebt und über unsere seelen wacht.

Das Papier knickte unter den bebenden Fingern des Älteren ein und das Raumschiff wackel-te, ein dumpfes Grollen war durch die dünnen Wände der Kabinen zu hören und Menschen rannten bereits auf allen Gängen herum und jubelten: Das Schiff hob ab.
Neo löste seinen Blick von dem Zettel in seinen tremolierenden Händen und sah hinüber zu Kais Bett, nur um sich zu vergewissern, dass Kai wirklich nicht da war.

Die Kleidung war immer noch perfekt gefaltet, das Essen immer noch unberührt – Kai war nicht da.

Etwas Alarmierendes und zunehmend Bedrohliches klingelte in Neos Ohren, der Knoten in seinem Magen spross Dornen und es fühlte sich an, als bohrten sie sich direkt durch sein Herz – es durfte nicht wahr sein.
Neo atmete tief durch, stopfte den Zettel zurück in seine Hosentasche und lief über den Kor-ridor, der zur Zentrale des Schiffes führte.

Das Cockpit war durch einen niedrigen Satz metallischer Schnüre abgesperrt, davor kam der riesige Kontrollraum. Das Schiff war bereits aus der Erdatmosphäre ausgetreten und steuer-te langsam auf Mars zu.
Sobald es an allen Monden Jupiters vorbei wäre, könnte es auf Lichtgeschwindigkeit um-schalten, würde das zu früh passieren, könnte die Wucht des Schiffes einen Effekt auf die Gravitationskräfte der ersten vier Planeten haben, und es ging darum, so viel wie möglich intakt zu halten.

„Entschuldigen Sie?“, die Panik in Neos Stimme war unmissverständlich, genauso ersichtlich wie sie es in seinen Augen, Händen und Knien war.
„Haben es alle auf dieses Schiff geschafft?“
Neo stellte sich auf eine der erhöhten Plattformen neben dem Cockpit und wurde von dem sanft gezeichneten Gesicht eines Mannes und einem eisernen Lächeln begrüßt.

„Die Daten wurden noch nicht vollständig ausgezählt, aber das sollte nicht mehr als ein paar Minuten beanspruchen.“ Der ältere Mann wandte sich ab und tippte auf dem großen Bild-schirm vor ihm herum. „Suchen Sie jemanden?“

Neo nickte schwach und untersuchte die unverständlichen Zahlen, die auf dem Monitor er-schienen, „Er heißt Kai.“ Er schwieg kurz, hob seinen Finger, als wollte er an seinen Nägeln kauen, aber fing sich in letzter Sekunde. „Ich kenne seinen Nachnamen nicht.“

„Woher kommt er?“

„Tsumago.“ Neo schwieg erneut und ballte seine Hand zu einer Faust, nur um die Spitzen seiner Fingernägel in seine Handfläche zu stechen. „Zumindest glaube ich das.“

„Ah ja“, der Mann hielt das Durchrechnen der kryptisch aussehenden Daten an, runzelte die Stirn und hielt inne, direkt bei dem roten Kreuz das neben Kais’ Namen erschienen war. „Es scheint, als hätte er den Check-in verpasst, aber ich bin mir sicher, dass wir ihn nach der zweiten Bestätigungsrunde gefunden haben. Seit dem Abflug der dritten Fähre hat niemand mehr ein Schiff verpasst.“

Neo nahm gerade noch rechtzeitig wahr, dass er schon viel zu lange nicht mehr eingeatmet hatte, schnappte nach Luft und starrte das rote Kreuz fassungslos an, als könne er nicht glauben, dass es wahrhaftig da war. Sein Herz pochte irgendwo in seinen Schläfen und seine Finger fühlten sich eiskalt an, sein Hals glühte, und es war ihm, als wäre in dem Raum um ihn herum nicht ausreichend Sauerstoff.

„Nur noch wenige Sekunden, dann haben wir die letzten Auszählungen.“
Der ältere Mann tippte auf die Schaltfläche in der oberen rechten Ecke seines Screens, um die Liste zu aktualisieren, während Neo seine Augen schloss und versuchte, still zu bleiben, während er versuchte, nicht umzukippen und vom Rand der Hebebühne zu fallen. Es durfte nicht wahr sein.

„Ah“, die Stimme des Mannes ertönte zögerlich und leise, was Neo dazu brachte seine Au-gen zu öffnen und sie wieder auf den Monitor zu fixieren.
Das kleine rote Kreuz neben Kais Namen war immer noch da.
„Anscheinend hat er es nicht auf das Schiff geschafft,“ der Mann klang beschämt und ver-wirrt, als hätte auch er nicht damit gerechnet, „die endgültige Auszählung besagt, dass eine Person fehlt.“

Neo schwieg, zerbrach innerlich, hörte nur noch den Blutrausch hinter seinen Ohren und aus den Dornen in seinem Herzen wurde Gift.
Es verteilte sich in seinem ganzen Körper und fraß sich durch seine Brust, so unerbittlich, dass Neo dachte, er müsse sterben. Es tat weh, sein Herz tat so unbeschreiblich weh. „Was meinen Sie damit, er hat es nicht geschafft?“, seine Stimme zitterte, aus seiner geballten Hand floss Blut, und was auch immer Neo zuvor für Schmerz gehalten hatte, erschien nun allenfalls lächerlich.

„Er ist nicht auf dem Schiff,“ die Stimme des Mannes klang ebenfalls instabil, „er ist nicht auf dem Schiff und ich weiß nicht warum, es tut mir leid.“

„Warum tut es Ihnen leid?“, das Zittern in Neos Stimme war fast komplett verschwunden, ersetzt durch einen Ton des Entsetzens. Sein Verstand war komplett frei von Vernunft, wel-che sich zusammengeknotet um seinen Hals geschlungen hatte und ihm die Kehle zuschnür-te. Als er sich wieder dazu zwang zu atmen, war es qualvoll. „Wir müssen das Schiff nur um-kehren und ihn holen.“

„Es tut mir sehr leid, aber das können wir nicht.“

„Warum nicht?“, er wurde laut, zu laut, hatte aber keine Kontrolle darüber, da das Blut in seinem Kopf alles um ihn herum abdämpfte und das Brechen seines Herzens bis in seine Oh-ren klirrte.

„Wir können das Schiff nicht einfach umkehren und wieder landen!“

„Warum zum Teufel nicht?“, Neo war laut, es drang langsam auch zu seinen Ohren durch: zu laut, zu laut, zu laut, aber nicht laut genug.
Als er einen Schritt nach vorne trat, erschien sofort ein weiterer Mann an seiner Seite, groß und breitschultrig, und legte eine stählerne Hand an Neos Arm.

„Bitte, mein Herr, es wäre klug von Ihnen, sich zu beruhigen.“

„Ihr habt meinen Freund zurückgelassen! Mein Freund ist da draußen, auf der Erde, er ist die letzte Person auf der Erde und ihr habt ihn dort gelassen!“, Neos Hals schmerzte mit den Worten, die er hinaus schrie, aber er hörte sie fast nicht, nicht über den Klang seiner Angst, seiner Wut, seines Unglaubens. Über jede einzelne Emotion, von der er nie gedacht hätte, dass er sie in sich aufsteigen fühlen könnte, wie sie durch seinen Rücken strömen würden, wie sie sich um seinen Brustkorb schließen, seine Lunge verengen, seinen Hals, und sein Herz, sein Herz, sein Herz.

Tränen rannen über sein Gesicht. Er merkte es nicht, bis er sie auf seinen Lippen schmecken konnte.

„Wir müssen zurück! Mein Freund – mein bester Freund ist da unten! Bitte, wir müssen zu-rück!“ Er wollte versuchen, zum Pilotensitz durchzudringen, als könnte er das Schiff irgend-wie selbst umdrehen, aber der kräftigere Mann hatte ihn fest im Griff, mit einer Hand an seiner Taille, während die andere sein Handgelenk umschlang.

„Wir können nicht,“ der ältere Mann erhob das Wort wieder, mit schwankender Stimme und einem Blick, der auf alles andere gerichtet war, nur nicht auf Neo, „wir können nicht, weil es sechs weitere Monate dauern wird, bis die Startrampe wieder aufgeladen wäre, und“, er hörte auf zu sprechen und schluckte – Neo unterbrach die Stille, mit einem markerschüt-ternden, gebrochenen Schluchzen – „und wir haben die atmosphärischen Gittergeneratoren abgeschaltet, bevor wir abgeflogen sind. Wir nahmen angesichts der Umstände an, dass sie nicht mehr nötig sein würden, also wird die Sauerstoffversorgung bis zum Morgen ausge-schöpft sein.“

„Ihr habt—,“ Neo verschluckte sich beinahe an den schmerzverzerrten Tönen, die sich in seiner Kehle bildeten, und es fühlte sich an, als würde das Herz, das ihm gerade rausgerissen wurde, bespuckt und zerhackt werden, auf die kleinsten Teile reduziert, bis nichts weiter blieb als Elend.
„Ihr habt sie abgeschaltet.“

„Es tut mir so wahnsinnig leid, aber es gibt nichts mehr, was wir tun können.“

„Nein – scheiße – scheiß drauf, wir gehen zurück! Es ist mir scheiß egal, ob es noch ein hal-bes Jahr dauert, wir können alle auf diesem verfluchten Schiff bleiben, wenn es sein muss!“ Neo schüttelte seinen Kopf, als könnte ihn das von den Wahrheiten befreien, die über seine Wangen liefen und auf dem Boden niederfielen. Er schüttelte seinen Kopf, als würde es ihm helfen, die unzähligen Erinnerungen an Kai zu beseitigen, die seine Gedanken plagten: Kai und sein Lachen, das die Welt selbst in ihrem abgedunkelten Zimmer zum Leuchten brachte. Kai, dessen Lächeln einem Sonnenaufgang glich und dessen Augen wie die Sterne funkelten – Wie ein strahlend Diamant.

„Es geht hier um eine einzige Person.“ Der Mann, dessen Hände sich immer noch in Neos bebenden Körper krallten, klang so als wüsste er genau, dass das, was er sagte, nicht über-zeugend war. „Wir können das Leben von Zehntausenden nicht zum Wohl einer Person ge-fährden.“

„Aber er ist meine einzige Person! Er ist meine einzige Person—“ Neos Körper wurde schlaff und der Arm um seine Taille lockerte sich. Ein Publikum hatte sich um den Kontrollraum ver-sammelt und beobachtete die ganze Szene, wie ein großes Spektakel in einer Zirkusshow.
„— Er ist die einzige Familie, die ich habe, die ich jemals gehabt habe,“ was seine Lippen ver-ließ, entsprach einem Flüstern, er war zu schwach und zu müde, konnte seine eigenen Wor-te kaum über das Geräusch seines Atmens hören, konnte sie kaum schmecken, über die sal-zige Traurigkeit, die sich auf seiner Zunge ausbreitete: Der Nachgeschmack eines aussichtslo-sen, unheilvollen Albtraums, einer, der niemals enden würde.

Es war einen Augenblick lang still. Einen Augenblick lang dachte Neo, dass er vor Leid ge-storben wäre, und als er merkte, dass dem nicht so war, wünschte er sich, dass er es täte.

„Wir können versuchen, Funkkontakt herzustellen“, die Stimme des älteren Mannes erklang hinter Neo. Sie war zart, flehend, fast verzweifelt.
Denn egal, wie sehr man es verändern wollte, Herzen bestanden immer noch aus zarten Dingen: Gewebe, Blut und Muskeln. Dinge, die leicht verwundbar sind. Dinge, die dazu nei-gen, Narben mit sich zu tragen, anstatt zu heilen. „Wäre das in Ordnung?“

Neo schnappte nach Luft, die nicht da war, aber er nickte. Er nickte und nickte, konnte kei-nen Ton mehr von sich geben und nickte.

Nach einem Austausch zweier Männer, in einer Sprache von der Neo schwor, sie noch nie gehört zu haben, und einem Durcheinander von Signaltönen und leisem Rauschen, sprach der ältere Mann in ein kleines Mikrofon, welches an einem langen Kabel hing.
Und dann, scharf wie eine Scherbe der Klarheit, schmerzhaft und schrill, dann kam Kais Stimme auf.

Ihr Klang schnitt förmlich in Neos Haut ein, in sein Herz, er brannte in seinen Augen, und dieser Schmerz genügte dem Älteren um aufzuspringen und dem Mann das kleine Mikrofon aus der Hand zu reißen.

„Kai! Scheiße, Kai, kannst du mich hören?“ Er umgriff das Mikrofon mit beiden Händen, hatte Angst loszulassen, hatte Angst Kai gehen zu lassen.
„Kannst du mich hören?“

„Wir werden Sie nicht auf eine private Leitung bringen können, da das Signal zu schwach ist“, der ältere Mann flüsterte, „und sobald wir an Jupiters Monden vorbei sind, verlieren wir das Signal endgültig, Sie haben nur kurz Zeit.“

Neo verstand, obwohl er nicht einmal richtig hingehört hatte, er war zu sehr
auf die Atemzüge konzentriert, die aus den großen Lautsprechern über ihm kamen und durch den Raum hallten. Er konnte Kais Herzschlag praktisch spüren, fühlte ihn an seiner Wange, als er sein Gesicht gegen das kalte Metall der Wand drückte, und schloss seine Au-gen: Das hier würde das letzte Mal sein, dass er ihn atmen hört.

„Neo? Bist du das?“

„Ja, ich bin hier.“ Neo presste sein Gesicht mit zunehmender Gewalt an die Wand und schluckte. „Warum bist du nicht hier, Kai? Was hast du nur getan?“

„Ich bin zurück nach Hause gerannt.“ Kai schwieg für eine Sekunde. „Ich bin zurück gerannt, um ein Buch zu holen. Du weißt schon, Der kleine Prinz“, Kai schwieg erneut und senkte sei-ne Stimme, „ich wollte es für dich holen.“

„Du bist zurückgegangen, um ein Buch zu holen?“ Neo stieß ein ersticktes Lachen aus und schlug seine Stirn gegen die Wand, brutaler als gewollt, nur um sich vergewissern, dass er keine Wahnvorstellungen hatte.

„Ich wollte dich überraschen.“

Neo schloss seine Augen wieder, zischte leicht, als der Schmerz aus seiner Stirn ihn erreichte und spürte wie eine Träne über den Rand seiner Wange floss. Er zog den kleinen, gefalteten Zettel aus seiner Hosentasche.
„Das wollte ich auch.“

Stille erfüllte den Raum, niemand sprach. Alle schauten auf den Jungen, der sich an der Wand zusammengekauert hatte und den Lautsprecher an sein Gesicht drückte, ein zerknit-tertes Papier in seinem Schoß und ein lautloser Hilferuf auf seinen Lippen.

„Wir holen dich.“ Schuld füllte die Risse seines zertrümmerten Herzens, verätzte seine Wor-te, doch Neo sprach weiter. „Wir holen dich, auch wenn ich dieses verfluchte Schiff alleine steuern muss.“

„Du wolltest schon immer Pilot werden.“

„Das wollte ich“, der Ältere lachte gequält, erstickte fast daran und drückte das Mikrofon noch näher an sich. Kai hatte sich immer daran erinnert, sogar wenn Neo es nicht mehr tat. „Ich schätze, Träume werden wirklich wahr.“

Diesmal lachte Kai, und Neo war sich nicht sicher, ob es für ihn eher wie eine Verdammnis oder eine Erlösung klang.

„Es wird aber eine Weile dauern, wir sind ziemlich weit weg, also solltest du wahrscheinlich schlafen“, Neo presste eine Hand gegen seinen Mund, um den schmerzlichen Laut zu unter-drücken, der in seinem Hals gefangen war.

„Das werde ich.“

„Wir werden zum Morgen da sein, das hat der Captain mir versprochen.“ Neo biss sich auf die Zunge, der ältere Mann schenkte ihm ein wehmütiges Lächeln und Neo war sich fast si-cher, dass Kai genau wusste, dass es keinen Morgen für ihn geben würde.

Es war wieder ruhig. Neo nahm den Klang von Kais’ Atem in sich auf, wollte sich für immer daran erinnern, und er fragte sich, ob er seinen eigenen für Kai aufgeben könnte.

„Zu welchem Stern geht ihr?“ Kai unterbrach die Stille, seine Stimme war verschwommen, dunkel, und statisch aufgeladen. Der ältere Mann zeigte auf einen Bildschirm, auf dem eine Karte des Sonnensystems zu sehen war – Das Schiff näherte sich dem ersten Jupitermond.

„Dein Stern. Wir gehen zu deinem Stern“, Neo ließ seinen Kopf zwischen seine Knie fallen und versuchte vergebens, seine Atmung zu beruhigen. „Den, den du mir in einer Nacht auf dem Dach gezeigt hast.“

„Es ist Sonnenuntergang, weißt du.“ Nach einer kurzen Pause, in der Kai nicht geantwortet hatte, sprach er wieder. Das Rauschen in seiner Stimme wurde immer unerträglicher, halbe Silben brachen bereits ab. Neo blickte auf den Bildschirm: Die letzten Monde Jupiters waren nicht mehr weit entfernt.

„Ist er schön?“ Neo hatte keine Sekunde aufgehört zu weinen, biss nach jedem Satz, den er aus sich herausgequält hatte, in seine eigene Faust, ließ seinen Zettel irgendwann los und krallte sich mit seiner freien Hand an die Stelle über seinem Herzen, als könnte er es so da-von abhalten, zu zerspringen und seine Brust in Stücke zu brechen.

„Zu schön.“

„Der Sonnenaufgang ist trotzdem schöner.“

„Es wird dunkel—“, zum ersten Mal nahm Neo das Schwanken in Kais Stimme war, und es war nicht das schwache Funksignal. „— und kalt.“

„Schlaf.“ Die Knöchel an Neos Hand, welche sich immer tiefer in seine Haut bohrte, liefen weiß an, und er hatte plötzlich das Bedürfnis, sein Herz selbst heraus zu reißen, um sich aus dieser Misere zu befreien. „Bitte, schlaf.“

„Neo.“ Kais Stimme zitterte. „Ich habe Angst.“

„Ich weiß.“ Neo kämpfte damit, nicht zusammenzubrechen, kämpfte damit seine Stimme stabil zu halten. Drei weitere Monde.

„Ich liebe dich.“

„Ich weiß.“ Er wollte mehr sagen, wollte ihm alles sagen, zu viel, aber er konnte nicht, er-stickte fast an jedem Wort, das er von sich gab. Er hatte ihm doch noch so viel zu sagen.

„Sing für mich.“ Kai sprach wieder, schneller als zuvor, als wüsste er, dass ihnen wenig Zeit blieb.

„Was?“

„Sing für mich, das beruhigt mich, bitte.“

„Ich kann nicht.“ Neo schüttelte seinen Kopf, als würde er nichts von dem glauben, was ge-rade passierte, lehnte seine Stirn dann an die metallische Wand und atmete durch.

„Du kannst nicht?“

„Ich kann nicht!“ Der Ältere schrie auf, so laut, dass die Lautsprecher für einige Sekunden versagten. „Ich kann nicht, ich kann das nicht, warum lässt du mich allein! Warum tust du mir das an, sag mir warum!“

Kai antwortete nicht.

„Sag es mir!“

Der ganze Raum war still, Neo rang nach Luft und vernahm vom anderen Ende der Leitung das Umblättern einer Seite, bevor Kais Stimme wieder durch seine Ohren schoss, leise und ruhig, zarter als Gold: „Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es dir sein, als lach-ten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache.“

Neos Kopf schnellte nach oben und er starrte mit blutroten Augen an die Wand vor ihm. Er wusste, wovon Kai sprach, erinnerte sich genau, exakt dieselben Worte vorletzte Nacht auf ihrem Dach vorgelesen zu haben.
Der kleine Prinz. Mein kleiner Prinz.

Die Stimmung in der Menge veränderte sich, der alte Mann nahm seinen Hut ab und drückte ihn mit gesenktem Blick an seine Brust.
Zwei weitere Monde.

Und Neo sang, den Rücken an die Wand gepresst, das Mikrofon in seinen zitternden Händen und die letzten Worte, die er je zu seinem besten Freund sprechen wird, auf seiner Zunge. Er ignorierte den Zettel in seinem Schoß, er sang nicht sein eigenes Lied, nein, er sang das Lied, das er schon immer gesungen hatte.

„Funkel, funkel, kleiner Stern—“ Der letzte Mond.

ach wie bist du mir so fern.

— alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht. (Goethe)

 

 

2084
von Aline Gladitz 10d

Ein kurzes Bellen. Ein langer Vogelgesang. Ein kurzes Bellen. Ein kurzes Bellen. Ein langer Vogelgesang. Ein kurzes Bellen. Diese Melodie wiederholt sich stündlich in der ganzen Stadt. Sie soll den Menschen einen Sinn für Normalität geben. Was normal ist, weiß aber niemand mehr. Nach der Katastrophe ist nichts mehr so wie früher. Das meint jedenfalls meine Mut-ter. Ich selbst war vor 15 Jahren erst fünf und habe nur sehr wenig von allem mitbekommen.
„Joy!“. Meine Mutter ruft nach mir. Sie braucht wahrscheinlich wieder meine Hilfe, um die Toilette zu benutzen. Sie ist zwar erst 40 Jahre alt, jedoch ist sie schon sehr schwach. Das liegt an der künstlichen Luft, die nun alle zum Atmen brauchen. Sie erlaubt uns zwar, weiter am Leben zu bleiben, jedoch erschwert sie jede Art von körperlicher Anstrengung. Das übli-che Todesalter der Menschen liegt nun schon bei 50 Jahren. Meine Mutter erzählte mir, dass es früher bei 80 Jahren lag. Sie hatte mich zum Glück schon bekommen, als sie sehr jung war. Die meisten Menschen in meinem Alter haben keine Eltern mehr. Dies liegt jedoch nicht an der künstlichen Luft, sondern daran, dass vor 15 Jahren, als die große Katastrophe passierte, Deutschland das einzige Land war, welches in kürzester Zeit einen großen Schutz-wall um das gesamte Land bauen konnte. Mein Vater war ein wichtiger Politiker Londons, weshalb er mir und meiner Mutter einen Platz in der sogenannten Oase sichern konnte. Er selbst durfte jedoch nicht mitkommen, da er zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt war. Die ober-ste Altersgrenze der Oase lag bei 25 Jahren. Alle älteren Personen oder Leute, die nicht wich-tig genug waren, um sie zu retten, mussten in der Katastrophe sterben. Was genau bei der Katastrophe passiert ist, konnte niemand von uns wissen. Es ist nur bekannt, dass es außer-halb des Schutzwalls kein Leben mehr gibt und dass man den Schutzwall nicht verlassen kann, da es außerhalb bis zu minus 150°C hat. Meine Mutter meinte immer, dass wir Men-schen selbst daran schuld seien.
„Joy!“. Meine Mutter ruft wieder. Ich nehme meinen Rollator, in dem sich meine künstliche Luft für die Woche befindet, und mache mich auf den Weg in ihr Schlafzimmer. Ihr Schlaf-zimmer befindet sich direkt neben meinem, weil uns mein Vater nur eine kleine Wohnung besorgen konnte. Jedoch kostet mich dieser kleine Weg sehr viel künstliche Luft. Ich helfe meiner Mutter dabei, die Toilette zu benutzen, und fahre dann mit meiner Arbeit fort. Ich bin gerade dabei, einen Aufsatz für mein Studium zu schreiben. Ich will einmal eine wichtige Politikerin werden, genauso wie mein Vater. Der Hauptgrund dafür ist jedoch nicht mein Vater, sondern der heilige Baum. Der heilige Baum ist der einzige Laubbaum, der die künstli-che Sonne überlebt hat. Alle anderen Laubbäume sind trotz gegenteiliger Bemühungen der besten Gärtner gestorben, da sie ohne das echte Sonnenlicht keine Fotosynthese betreiben konnten. Warum genau der heilige Baum überlebte, weiß keiner so genau. Er steht in der Mitte des Bundestages. Wichtige Politiker sind die einzigen starken Leute der ganzen Gesell-schaft, da sie als einzige richtigen Sauerstoff bekommen. Das ist auch der Grund dafür, wes-halb wichtige Politikerinnen ständig schwanger sind. Sie sind die einzigen Frauen, die stark genug sind, ein Kind zu gebären. Dass es die Menschheit, so wie sie derzeit existiert, nicht mehr viel länger geben wird, egal wie oft die Politikerinnen schwanger werden, weil es eben doch zu wenige sind, ist ihnen wahrscheinlich schon bewusst, jedoch wollen sie es nicht wahrhaben.
Meinem Aufsatz fehlt nun nur noch der Schluss. Ich will ihn heute unbedingt zu Ende schrei-ben, da ich ihn morgen abgeben soll. Die Zeit, die wir für unsere Arbeiten bekommen, ist leider immer etwas knapp, da wir so schnell wie möglich anfangen sollen zu arbeiten. Dies liegt vor allem daran, dass die meisten Menschen schon mit 35 Jahren in Rente gehen. Ich werde erst spät in der Nacht fertig und gehe schnell zu Bett. Am nächsten Morgen liegt eine weite Reise vor mir. Ich muss bis in das Stadtzentrum fahren, um meine Arbeit abzugeben. Ich hasse es, Auto zu fahren. Das viele Bewegen beim Umschauen, beim Beschleunigen und Bremsen kostet mich sehr viel künstliche Luft. Als ich jedoch im Stadtzentrum ankomme, freue ich mich. Meine Schule befindet sich direkt neben dem Bundestag. Alle 2 Monate muss ich hier hinkommen, um meine Arbeiten abzugeben und mir den neuen Stoff abzuholen. Der Rest findet über das Internet statt. Jedes Mal, wenn ich hier bin, habe ich das Gefühl, dass ich stärker bin. Wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein, jedoch könnte es doch wirklich sein, dass es vor dem Bundestag auch echte Luft gibt. Nachdem ich meinen Aufsatz abgegeben habe, will ich wieder zurück zu meinem Auto.
Etwas ist jedoch anders. Ich fühle es. Ich schaue mich um, und sehe, dass die Tür zum Bun-destag offen ist. Eine Welle von Emotionen überrollt mich und ich renne auf die Tür zu. Ein Politiker sieht mich und schließt sie. Kurz zuvor konnte ich den heiligen Baum jedoch noch in seiner vollen Pracht sehen. Umso größer ist mein Verlangen, den frischen Sauerstoff zu at-men. Ich hämmere mit all meiner Kraft gegen die Tür. Sie scheint aus Metall gebaut zu sein und will nicht nachlassen. Nach 5 Minuten wird mir auf einmal schwindelig. Ich schaue auf meinen Rollator und sehe, dass meine künstliche Luft aufgebraucht ist. Ich hätte nicht ren-nen, nicht hämmern, mich nicht verführen lassen sollen. In meiner Verzweiflung suche ich nach meiner Notfall-Luft. Plötzlich fällt mir ein, dass ich sie im Auto gelassen habe. Mit letz-ter Kraft krieche ich zu meinem Auto. Wo ist mein Schlüssel? „Uff“, gefunden. Ich sehe, wie ein Mann auf mich zu geht. Er hält mir seine Hand hin. Ich sehe, wie ich seine Hand anneh-me. Dann sehe ich nichts mehr. Alles ist schwarz.

 

 

2084
von Emily Moser, 10d

Prolog
Hier stand ich nun, mitten in diesem weißen Pulverzeug, das sie Schnee nannten, während vereinzelte Kampfgeräusche und das Klingen von Schwertern zu hören waren. Ich wusste nicht, von wo, geschweige denn von wem sie kamen, allerdings war ich froh darüber, dass es anscheinend nicht in meiner unmittelbaren Umgebung war. Doch hier oben kannte ich mich nicht sonderlich gut aus und lief somit Gefahr, mich zu verlaufen. Auf meinem Kopf trug ich außerdem eine Krone, die mehr wert war, als alles, was ich je besessen hatte und mir nicht gehörte. Es war die Krone einer Dynastie, die ich verachtete, zumindest bis zu dem Zeit-punkt, als ich ihn traf. Ab da an veränderte sich nicht nur meine Sicht auf die Monarchie, sondern auch auf die Menschen in meinem Umfeld. Ich war mir jetzt doch nicht mehr so sicher, was richtig und was falsch war und der andauernde Schmerz hinderte mich am Den-ken. Auf meinem neuen Kleid waren Blutspuren verteilt, doch ich wusste nicht, ob sie von mir oder von jemand anderem stammten. Erst jetzt bemerkte ich, wie die Kälte durch meine Kleider kroch und das unangenehme Nass sich langsam ausbreitete. Die Schneekristalle wir-belten nun immer schneller vor meinen Augen herum und setzten sich auf meine wirren Haare und meine freien Arme. Ich musste hier weg, musste mich in Sicherheit bringen und die anderen warnen, doch meine Füße bewegten sich keinen Zentimeter. Es war wie ver-hext, dabei hieß es doch immer, der Körper würde in Notsituationen von selbst funktionie-ren. Doch meine Beine zitterten nur, vor Kälte oder vor Angst, das wusste ich nicht so genau. Wenn das so weiter ging, würde ich hier jämmerlich erfrieren und könnte ihn nie wieder küssen. Die Ereignisse der letzten Tage gingen mir durch den Kopf und ich musste fast grin-sen, über das, was geschehen war, so absurd schien es.
Doch das Lächeln verging mir, als ein Schatten vor mir auftauchte. Er kam langsam auf mich zu, hinter ihm die mit Lichterketten geschmückten Bäume und die leise fallenden weißen Flocken. Das Bild, das sich mir bot, war auf eine groteske Weise harmonisch, auch wenn es keinen Anlass gab, so etwas zu denken. Als die Person nur noch einen Meter von mir ent-fernt war, blieb sie stehen und blickte auf. Der Anblick dieser durchbohrenden glasklar-blauen Augen jagte mir einen Schauer über den Rücken und ließ mich nur noch mehr frö-steln. „So sieht man sich wieder, Kleine.“

Kapitel 1:

Drei Monate früher...
Die Kutsche, in der ich saß, holperte aufgrund jedes einzelnen Schlaglochs, über das wir fuh-ren, und schüttelte mich ordentlich durch. Wir waren nun seit Stunden unterwegs und die Landschaft kam mir schon lange nicht mehr bekannt vor. Klar, die Scheinwerfer, die uns Ta-geslicht brachten, sahen hier genauso aus wie Zuhause und auch die Decke weit über uns, war im ganzen Land gleich. Allerdings hatten sich die Häuser und Menschen verändert und auch die Luft war irgendwann wärmer geworden. Hier im Zentrum unseres Reiches Seemlim-lay ging es den Leuten besser als in den armen Regionen, aus denen ich stammte. Je näher wir unserem Ziel kamen, desto elektrisierter und angespannter wurde die Stimmung in der Kutsche.
„Weißt du auch wirklich, was du machen sollst und wie du dich zurechtfindest?“, fragte mich Nael, der mir gegenübersaß, zum wiederholten Mal. Mein Freund schaute besorgt drein, was mich an den Blick meines sich immerzu kümmernden Vaters erinnern ließ und seine schwarzen Haare standen wild vom Kopf ab. „Jahaa!“, antwortete ich genervt. Er wollte die-se Frage wahrscheinlich so lange stellen, bis er es mir noch einmal erklären durfte, dabei kannte ich unsere Vorgehensweise in- und auswendig. Schon seit Monaten planten Nael, unser Boss, Mr. Regna, und ich diesen Tag und jeder von uns wusste genau, was zu tun war – auch ich. Es war verständlich, warum Nael sich sorgte und ich wusste, dass er am liebsten mitkommen würde, doch das ging leider nicht. Außerdem war der Plan eigentlich ganz simpel: Ich würde mich als die ebenso adlige wie geheimnisvolle Nichte des Cousins unseres Kaisers, Herzog Willbur von Anilam ausgeben und so in den Palast gelangen. Dort sollte ich mich bei der kaiserlichen Familie einschmeicheln und so allmählich Zugriff auf geheime In-formationen und Unterlagen erhalten. Diese sollte ich dann über eine Küchenhilfe an die Luchse weiterreichen. Der letzte Punkt war wahrscheinlich noch der Gefährlichste, denn die Luchse waren eine verbotene Untergrundbewegung, der ich und Nael angehörten.
Als ich ihm zum wiederholten Mal versicherte, dass ich all das schaffen würde -schließlich war ich eine ausgebildete Agentin - seufzte mein Begleiter einigermaßen zufriedengestellt und blickte stumm aus dem Fenster. Ich wusste, dass ursprünglich er zu dieser Mission beru-fen worden war. Doch da der Herzog, selbst ein ausschlaggebender Teil der Luchse, nunmal nur eine Nichte und keinen Neffen in unserem Alter hatte, wurde schließlich ich auserkoren. Unsere Bewegung wollte die Monarchie stürzen und die Lebensbedingungen der Menschen in Seemlimlay verbessern. Denn außer den wenigen Reichen und Adeligen ging es dem Großteil der Bevölkerung schlecht und es war dringend nötig, etwas zu ändern.
Niemand wusste genau, wie es zu dieser ungerechten Verteilung gekommen war, denn so etwas lernte man nicht im Geschichtsunterricht, wenn man überhaupt einen besuchte. Es wurde nur die Entstehung unseres noch recht jungen Staates beigebracht: Als sich die Frie-denslage in den frühen 2000er Jahren zunehmend verschlechterte, beschlossen einige cleve-re Aristokraten ein Land unter der Erde zu bauen und somit vor einem möglichen Atomkrieg geschützt zu sein. Die Bauarbeiten dauerten 30 Jahre und es wurde ein neues unterirdisches Reich erschaffen. Damit dort Menschen leben konnten, erfanden modernste Wissenschaftler Systeme, um Luft und Wasser von der Oberfläche zu erhalten und diese von den tödlichen radioaktiven Strahlen zu reinigen. Zusätzlich war um das ganze Gebiet, das bewohnt werden sollte, eine unendlich dicke Schicht von Atomstrahlen abhaltendem Material angebracht, das zusätzlich auch noch kühlend wirkte, da so es weit unter der Erdoberfläche immer heißer wurde. Einige auserwählte Familien konnten nach Fertigstellung des Geländes, das durch spezielle Scheinwerfer erleuchtet wurde, schließlich dort einziehen. Das geschah gerade noch rechtzeitig, denn nur kurze Zeit später brach auf der Erde der dritte Weltkrieg zwischen den USA und Russland aus und die alte Welt wurde zerstört. Die Menschen unter der Erde waren die einzigen Überlebenden, denn die radioaktiven Strahlen des Atomkriegs hatten alles verseucht und jedes Leben vernichtet. Die Bürger von Seemlimlay gewöhnten sich bald an das Leben unter der Erde und machten es mit neuen Erfindungen angenehmer. Heute, 50 Jahre später, konnten sie Landwirtschaft betreiben und bekamen immer noch die gefilterte Luft von oben. Doch das damals ausgewählte Regierungssystem einer Monarchie war veral-tet und nun würde ich helfen, es zu stürzen.

Endlich kam der riesige Palast in Sicht und ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Das Gebäude hatte unzählige Türmchen und Erker und glitzerte mit den Scheinwerfern um die Wette. Eine große Mauer umgab das Wohnheim des Kaisers und überall wehten blau-weiße Fahnen und Wimpel mit einer roten Rose in der Mitte, dem Symbol unseres Landes. Dort würde ich also in den nächsten Wochen schlafen, essen und spionieren. Aufregung machte sich in mir breit und ich musste unwillkürlich lächeln. Für einen Moment vergaß ich, warum ich gekommen war, und schaute träumerisch aus dem Fenster. Es gab eindeutig schlechtere Orte, um eine geheime Mission durchzuführen. Die Wachen am Tor trugen die hervorste-chende blaue Uniform mit den weißen Hüten, die herunterzufallen drohten, als sie sich über unsere Einladung beugten. Nachdem sie die Echtheit des Dokuments bestätigt hatten, wur-den wir durch die Pforte gelassen und fuhren auf einer ebenen, mit Birken gesäumten Stra-ße in Richtung Palast. Bevor die Kutsche zum Stehen kam, drückte mir Nael noch schnell ei-nen Kuss auf den Mund, was leider ziemlich umständlich war, da ihm mein weiter Rock, der fast die ganze Kutsche einnahm, im Weg war.
„Du schaffst das! Ich glaube an dich und wenn du Hilfe brauchst, weißt du ja, wie du uns er-reichen kannst.“
„Ja, das wird schon alles klappen. Ich werde dich schrecklich vermissen.“
„Ich dich auch. Bis bald.“
„Bis bald.“
Da ging auch schon die Tür auf und es war Zeit auszusteigen. Ich rechnete es Nael hoch an, dass er mich nicht noch einmal belehrt oder mir unnötige Ratschläge gegeben hatte, denn ich wusste, dass sie ihm auf der Zunge gelegen hatten. Doch nun zog mich die Schönheit des Palastes wieder in ihren Bann und ich blickte der Kutsche nicht mehr nach, als sie davonfuhr. Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass ich nun hier stand und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als ein Diener mich durch die Eingangshalle führte. Überall an den Wän-den waren Gemälde mit verschnörkelten Rahmen und die roten Tapeten waren mit Goldver-zierungen geschmückt. Die einzigen Möbel in dem gigantischen Raum waren ein paar Stühle und Tischchen in den Ecken. Durch die großen Fenster konnte man einen wunderschönen Garten entdecken, durch den ich am liebsten direkt spaziert wäre, um mir die Pflanzen anzu-schauen. Es hieß, im kaiserlichen Garten gebe es die außergewöhnlichsten Blumen und Sträucher und ich war gespannt darauf sie von nahem zu sehen. Doch der Diener führte mich weiter ans andere Ende der Halle, wo neben einer riesigen, mit rotem Teppich belegten Treppe, eine edel wirkende Frau stand. Sie war mittleren Alters und hatte ihre braunen Haare zu einem strengen Dutt zusammengebunden. Ihr dunkelgrünes Kleid war weit schicker als meines und passte perfekt zu ihrem Schmuck und den Schuhen. Ich knickste leicht, wie ich es in meinem Training gelernt hatte, und fühlte mich etwas eingeschüchtert durch ihren strengen Blick.
„Sie müssen Lady Malia von Anilam sein. Willkommen im Palast.“
Ich nickte, denn sie konnte nicht wissen, dass ich in Wirklichkeit Lyra Milles hieß und eine 17-jährige Agentin war, die ihren Kaiser absetzen wollte.
„Freut mich sehr hier sein zu dürfen“, erwiderte ich mit einem Lächeln. Der Gesichtsaus-druck der Frau veränderte sich kein bisschen und blieb so starr wie zuvor. „Mein Name ist Lady Sylvesa und ich bin die nächsten Tage für Sie zuständig, bis Sie hier allein zurechtkom-men. Wenn Sie Fragen haben, melden Sie sich gerne bei mir. Jetzt zeige ich Ihnen erst mal ihr Zimmer.“
All das sagte sie so schnell und ohne jegliche Emotion, dass sie mir wie ein Roboter vorkam. Na toll, jetzt hatte ich auch noch die Eiskönigin in Person an der Backe, wie sollte ich denn da heimlich die Lage erkunden? Ich murmelte rasch ein Danke und folgte ihr die Treppe hinauf. Lady Silvesa ging mit solch zügigen Schritten voran, dass ich kaum hinterherkam und die Gemälde, Wände und Möbel, an denen wir vorbeiliefen, nicht genauer betrachten konnte. Auch der Diener hinter mir, der mein Gepäck trug, musste schnaufen und ich hätte ihm gerne geholfen, doch das hätte die Lady nur misstrauisch gemachen.
Regel Nummer eins der Luchse, ging mir durch den Kopf:

Wenn du nicht auffallen willst, verhalte dich wie dein Umfeld und niemand wird dich bemerken.

Wir schritten an unzähligen geschlossenen Türen vorbei, bei denen ich gerne gewusst hätte, was dahinter lag, bis meine Leiterin vor einer weißen Doppeltür im zweiten Stock stehen blieb und sie aufzog. Das Zimmer dahinter lag in Richtung Süden und war größer als die mei-sten Wohnungen, die ich kannte. An einer Seite stand ein wundervoll weich aussehendes Himmelbett und ich musste dem Drang widerstehen, mich direkt darauf zu legen. Dem ge-genüber standen zwei Sofas mit einem kleinen Tisch und daneben war ein drei Meter langer Schrank plaziert. In dem Raum gab es auch einen Schmink- und einen Schreibtisch und über eine weitere Tür gelangte man in ein riesiges Bad mit einer Badewanne und unzähligen Fläschchen, gefüllt mit Ölen und Tinkturen. Doch am meisten gefiel mir der Balkon, auf dem ich alles überblicken konnte, was sich im Garten abspielte.
Lady Sylvesa beobachtete eine Weile, wie ich mir alles ansah und meinte dann: „Der Palast stellt Ihnen, während Ihres Aufenthalts, eine Zofe und einige Kleider und Schmuck zur Verfü-gung. Sie werden die kaiserliche Familie erst morgen treffen. Das Abendessen haben Sie lei-der verpasst. Ich lasse Sie jetzt allein. Gute Nacht!“ Wieder fiel es mir schwer, ihrem schnellen Wortlaut zu folgen und bevor ich etwas antworten konnte, war sie auch schon weg. Ein hübsches Mädchen in Zimmermädchenuniform, das ich zuvor gar nicht gesehen hatte, kam auf mich zu. „Hallo, ich bin Elanie und ich habe die Ehre, Ihre Zofe zu sein, Lady Malia.“ Da fiel ihr ein, dass ich ja eine Adlige war und knickste rasch. Ich musste über ihren erschrockenen Gesichtsausdruck grinsen und gab ihr die Hand. „Es freut mich sehr, dich kennenzulernen, Elanie. Nenn mich doch bitte Lyra, das ist mein Spitzname.“ Es war zwar riskant, meinen echten Namen zu benutzen, doch wenn ich behauptete, es sei mein Kose-name, würde es nicht weiter auffallen. Meine Zofe lächelte jetzt wieder und begann meine Sachen auszupacken. Erst jetzt fiel mir auf, wie müde ich von der Reise war und bat sie, das Aufräumen auf morgen zu verschieben, damit ich zu Bett gehen konnte. Außerdem wollte ich nicht, dass sie die Sachen, die ich für die Spionage benötigte, entdeckte. Nachdem sie mir geholfen hatte, mich fertigzumachen, schlief ich umringt von den Kissen in meinem Bett, das mich an eine große kuschelige Wolke erinnerte, zügig ein. Morgen sollte ein aufregender und nervenaufreibender Tag werden, für den es sich lohnte ausgeschlafen zu sein. ...

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